Auslandsstudium via Erasmus:Bettwanzen und Heimweh gehören dazu

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Veronika aus München hat ihre Austauschstadt Stockholm im Laufe ihres Erasmus-Aufenthalts lieben gelernt. (Symboldbild) (Foto: AFP)

Gestrandet vor einem Stockholmer Blumenladen: Veronika aus München verbringt ein Auslandssemester in Schweden - und erlebt erst einmal böse Überraschungen. Warum sie trotz schwarzer Haare in ihrem Wohnheimzimmer dem Erasmus-Zauber erliegt.

Von Sebastian Gubernator

Erasmus bedeutet Abschied und Ankunft. Abschied von Menschen, die man vermissen wird, Familie, Freunde. Ankunft in einer anderen Welt. Man steigt aus der Klimaanlagenluft eines Flugzeugs und alles ist fremd, die Straßen und die Menschen und die Sprache, es ist wie Urlaub, obwohl man weiß: Man wohnt jetzt hier. Man isst, trinkt, schläft, lernt, feiert hier die nächsten Monate. Wie findet man Freunde? Wen wird man vermissen, wenn man wieder nach Hause fliegt? Alles ungewiss.

Veronika Heinrich kennt das. Sie studiert Maschinenwesen an der TU München, ein Semester hat sie an der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm verbracht. Vor sechs Wochen ist sie wieder nach Deutschland gekommen. Jetzt sitzt die 23-Jährige mit blondem Haar und Sonnenbrille vor einem Café und erzählt von Erasmus. Von dem Tag, als sie in Stockholm ankam, den Menschen, die sie getroffen hat: "Erasmus war eine gute Erfahrung." Das wird auch Gustav Andersson sagen, der schwedische Physikstudent, der nach München gekommen ist. So funktioniert Erasmus.

450 000 Deutsche waren dank Erasmus im Ausland

Fast jeder fünfte deutsche Student, der mit einem Erasmus-Stipendium ins Ausland geht, kommt aus Bayern. Das zeigt die Studie "Wissenschaft Weltoffen" des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Demnach hat die TU München im vergangenen Jahr 886 Erasmus-Teilnehmer (736 Studenten und 150 Praktikanten) in ein anderes Land geschickt - mehr als jede andere deutsche Hochschule. Auf Platz zwei steht mit 801 Erasmus-Teilnehmern (742 Studenten und 59 Praktikanten) die Ludwig-Maximilians-Universität. München ist die deutsche Erasmus-Hauptstadt.

Mit dem Beschluss 87/327/EWG riefen die europäischen Bildungsminister 1987 das Erasmus-Programm ins Leben. Die treibende Kraft dahinter war Jacques Delors, Präsident der Europäischen Kommission, der von einem vereinten Europa träumte. Studenten aus verschiedenen Ländern sollten sich annähern, andere Kulturen kennenlernen.

Sein Plan ging auf: Drei Millionen Menschen haben bisher dank des Erasmus-Programms in einem anderen Land gelebt, darunter 450 000 Deutsche. Neben den EU-Staaten sind Island, Liechtenstein, Norwegen und die Türkei Teil des Programms, für die Schweiz gelten Sonderregelungen. Erasmus ist beliebt, weil es unkompliziert ist: Man zahlt keine Studiengebühren, kann sich im Ausland besuchte Kurse oft anerkennen lassen. Es gibt Geld, im Durchschnitt 272 Euro pro Monat, ein Beitrag zur Miete, zu den Büchern, oft: zum Bier auf der nächsten Party.

Ein Tag im Januar. Stockholm ist unter einer Schneedecke verschwunden. Veronika steht vor einem Blumenladen, zwei Rucksäcke und einen Koffer hat sie dabei. Sie ist in einem Land angekommen, in dem sie noch nie war. In dem die U-Bahn Tunnelbana heißt und man fast alles mit Kreditkarte statt mit Bargeld bezahlt. Vor dem Blumenladen will sie ihren Vermieter treffen, so war es ausgemacht, aber der Vermieter kommt zu spät. Sie wartet. Zehn Minuten, zwanzig Minuten. Es hört nicht auf zu schneien. Das ist also Erasmus.

Es ist schwer, in Stockholm eine Wohnung zu finden. Veronika hat zur Untermiete ein Zimmer in einem Studentenwohnheim, 470 Euro zahlt sie. Das Zimmer ist dreckig. Der Vermieter hat überall seine kurzen schwarzen Haare verteilt. Eine Broschüre der Uni warnt vor Bettwanzen in den Wohnheimen. Veronika putzt, dann beginnt ihr Erasmus-Leben: Sie lernt Menschen aus der ganzen Welt kennen, aus Spanien, Italien, Dänemark, Indien, den USA. Erasmus-Studenten leben in einem internationalen Kosmos. Sie unterhalten sich auf Erasmisch, unperfektem Englisch, in das sich Grammatikfehler und Akzente geschlichen haben. Eine sonderbare und schöne Sprache.

Veronika fährt nach Tallinn und Helsinki, einmal besucht sie eine Freundin in Barcelona. Sie lernt, was eine Fika ist, eine Kaffeepause, die in Schweden so wichtig ist wie in England der Fünf-Uhr-Tee: Man trifft sich mit Freunden, trinkt Kaffee und isst Backwaren, die lustige Namen haben, Kanelbulle oder Kladdkaka. Veronika liebt es, an Wintertagen in einem Café zu sitzen, draußen der Schnee, drinnen die Fika. Erasmus ist mehr als das Sammeln von ECTS-Punkten.

Die meisten Erasmus-Studenten bleiben unter sich

Beton und Stahl, Architektur der Sechziger Jahre: das Stammgelände der TU München. Gustav Andersson, 24, sitzt im Hauptgebäude und trinkt Kaffee aus einem Pappbecher. Er kommt aus Stockholm, ist seit September Erasmus-Student an der TU. In der sechsten Klasse hat Gustav angefangen, Deutsch zu lernen, jetzt ist es nahezu perfekt, "aber wenn du nicht weiterlernst, vergisst du alles". Seinen schwedischen Akzent hört man kaum.

Er sagt, er hätte auch nach Darmstadt gehen können, aber von der Stadt hatte er noch nie gehört. "München kannte ich schon. Ich habe hier mal schwedische Freunde besucht." An seinem ersten Tag als Erasmus-Student lief Gustav durch die Stadt und suchte nach Orten, an denen er schon mal gewesen war. Den Marienplatz und das Sendlinger Tor erkannte er wieder. Gustav mag die Stadt. Mit deutschen Studenten aber trifft er sich nicht oft. "Die meisten internationalen Studenten bleiben unter sich", sagt er.

Ana Santos Kühn hört das öfter. Sie ist Direktorin des International Center, das sich um die Austauschstudenten an der TU kümmert. "Am Anfang ist es für viele nicht so einfach, Kontakt zu den deutschen Studierenden zu knüpfen", sagt sie. "Es ist einfacher, in der internationalen Community Kontakte zu finden." Obwohl es Möglichkeiten gibt, Einheimische zu treffen: Die Fakultäten der TU veranstalten Treffen; an der LMU lädt die MESA, eine Vereinigung ehemaliger Erasmus-Studenten, zu Ausflügen und Partys ein.

Gustav hat in einem Sportverein Deutsche kennengelernt. Er spielt Floorball, eine skandinavische Sportart, bei der man einen Ball mit Hockeyschlägern durch eine Halle jagt. "So sieht das aus", sagt er und packt einen neongelben Schläger aus, den er dabei hat. Bis März wird Gustav in München bleiben und an seiner Master-Arbeit schreiben.

Für Veronika ist Erasmus schon Vergangenheit. Vermisst sie Stockholm? "Ein bisschen." Sie erinnert sich an eine Nacht im Juni: Mit Freundinnen fuhr sie auf eine Insel vor der schwedischen Küste. Sie saßen am Lagerfeuer und tranken Wein, eine Französin, eine Dänin und zwei Deutsche. Zwei Wochen später packte Veronika ihre Sachen und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Abschied von Schweden, Ankunft in einer anderen Welt.

© SZ vom 13.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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