Thalmässing: Kind verhungert:Niemand kannte Sarah

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Um einschreiten zu können, sind die Behörden auf Hinweise angewiesen. Im Fall des verhungerten Mädchens aus Mittelfranken blieben diese offenbar aus - kaum einer kannte das Kind.

Olaf Przybilla

Am Tag danach kehrt der Wirt der Pizzeria in Thalmässing den Platz vor seinem Gasthof. Er heftet den Blick zu Boden. Spricht man ihn an, dann springt er förmlich zur Seite, so als habe man ihn gerade aus einem sehr bösen Traum geweckt.

Nein, er habe die Familie R. nicht gekannt, sagt er und kehrt weiter. Und nein, das drei Jahre alte Mädchen, das ein Stockwerk über dem Wirtshaus in Thalmässing verhungert ist, habe er nicht gekannt und nie gesehen.

Frank Zimmer holt tief Luft. Das sei nun das Beklemmenste, sagt der evangelische Seelsorger der mittelfränkischen Marktgemeinde Thalmässing. "Dass wir wohl alle dort unten im Erdgeschoss schon mal Pizza gegessen haben." Und dass währenddessen offenbar ein Stockwerk höher ein Kind verhungert sei.

Der Pfarrer kennt die Wohnung der Familie. Vor drei Jahren besuchte er Angela R., die Mutter des am Montag verstorbenen Mädchens. Es ging um die Taufe eines damals sieben Jahre alten Kindes der Mutter. Angela R. war 16 Jahre alt, als sie es zur Welt gebracht hat. Gemeinsam mit einem zweiten Kind ist es ihr vor neun Jahren vom Jugendamt Schwabach entzogen und in ein Heim gebracht worden - wegen "offenkundiger Erziehungsprobleme", sagt der Schwabacher Jugendamtsleiter, Harald Hübner.

Danach trennte sich Angela R. vom Vater der beiden Kinder und zog mit einem neuen Partner nach Thalmässing an der oberbayerischen Grenze, in den Landkreis Roth.

"Wir haben nichts zu verbergen", sagt Roths Jugendamtsleiter Manfred Korth. Er ist sich sicher, dass sein Amt keinen Fehler gemacht hat. Die Kollegen aus Schwabach hätten den Umzug von Angela R. Anfang 2005 gemeldet. Die Mutter war damals schwanger mit einem Sohn, Dominik. Dessen Erziehung überprüfte dann ein Mitarbeiter der Diakonie, der die Familie zweimal pro Woche besuchte.

Zwei Jahre lang ging das so, von unterlassener Hilfe soll in dieser Zeit nichts zu spüren gewesen sein - auch nicht, als im Mai 2006 Sarah auf die Welt kam. Seit April 2007 besuchte das Jugendamt die Familie nur noch sporadisch. Zum letzten Mal schaute ein Mitarbeiter im November 2008 nach dem Rechten. Die Wohnung soll aufgeräumt gewesen sein, die damals zwei Jahre alte Sarah wurde noch mit der Flasche versorgt. Danach wurden die Besuche eingestellt.

Die Deutsche Kinderhilfe kritisiert dieses Verhalten scharf. Obwohl offenkundig Anzeichen für eine Entwicklungsverzögerung von Sarah erkennbar gewesen seien, habe sich die Behörde vorschnell zurückgezogen.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gleichwohl nicht gegen das Amt. Es gebe keinen Hinweis auf ein Mitverschulden der Behörde, erklärt ein Justizsprecher. Und auch Roths Landrat Herbert Eckstein verteidigt das Jugendamt. "Wir können doch als Behörde nicht die Kontrolle einer Familie übernehmen", sagt er. "Wir sind da auf Hinweise von Nachbarn angewiesen."

Genau daran scheint es in Thalmässing gemangelt zu haben. Die Wohnung der Familie grenzt an den Marktplatz. Nebenan finden sich ein Metzger, ein Bäcker, ein Zeitungsladen, eine Drogerie und noch ein Gasthaus mit Geranien an den Fenstern. Irgendwo hier müsste die 26 Jahre alte Mutter mit ihrer Tochter eingekauft haben. Aber egal, welche Geschäftsleute man fragt, Sarah will noch nie einer gesehen haben. Ihren vier Jahre alten Bruder Dominik dagegen kennen alle. Wohl genährt sei er, weiß die Frau aus der Bäckerei. Von seiner Mutter habe er immer bekommen, was er haben wollte.

Im Kindergarten kannte man Sarah

Die Frau im Blumengeschäft schräg gegenüber hält einen Säugling im Arm. Sie ringt um Fassung. "Da denkt man, man lebt im Dorf - und kennt die Nachbarn nicht."

Im Kernort von Thalmässing leben nur 2000 Menschen. Im Kindergarten, den Dominik besuchte, wussten sie dagegen schon von Sarah. Wenn aber Frau R. gefragt wurde, ob sie nicht auch ihre Tochter mitbringen wolle, dann berichtete die Mutter von gesundheitlichen Problemen; und dass Sarah deshalb bei der Schwägerin aufwachse.

Krank war die Mutter tatsächlich. Kurz nach dem Tod ihrer Tochter wurde die 26-Jährige notoperiert. Dass Sarah, die zuvor völlig abgemagert in ein Klinikum eingeliefert worden war, an Unterernährung gestorben ist, hat die Polizei der Mutter noch vor der Operation mitgeteilt.

Sarahs Vater Patrick R. ist am Montag wegen Totschlags durch Unterlassen in Haft genommen worden. Der 29-Jährige hatte seine Frau in ein Klinikum gebracht, wo er in ihrem Beisein verhaftet wurde.

Auf seiner Internetseite präsentiert sich der Fernfahrer als stolzer Vater. Neben den Lastwagen zähle er die Familie zu seinen Hobbys. Auf Bildern zeigt er sich mit seiner Tochter auf dem Schoß. Dominik wollte er demnächst adoptieren, der Bub stammt offenbar aus einer früheren Beziehung der Mutter.

Die Großeltern, die selbst in Thalmässing wohnten, kümmerten sich viel um den Jungen, der selbständig zu ihnen hinüberlief. Sarah dagegen wollen sie nach Angaben des Jugendamtes zuletzt im Mai gesehen haben, an deren Geburtstag.

© SZ vom 13.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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