Niederbayern:Warum Julians Fußmarsch zum Schulbus unzumutbar ist

Lesezeit: 4 min

Nach dem Schulbeförderungsgesetz liegt die Grenze für ein elfähriges Kind bei drei Kilometern Fußweg bis zur Haltestelle. (Foto: Christian Endt)
  • Ein Elfjähriger muss mehr als zwei Kilometer über einen einsamen Weg zum Schulbus marschieren.
  • Ein Halt des Schulbusses direkt bei seinem Elternhaus würde erst eingerichtet, wenn der Weg mehr als drei Kilometer lang wäre.
  • Die Eltern wollen die entsprechende Regelung in Bayern abgeschafft sehen - und haben eine Petition im Landtag eingereicht.

Von Andreas Glas, Aham

Ein Holzkreuz steht am Wegesrand, daneben ein Baum und ein Bankerl. Das Holzkreuz steht auf halber Strecke des Schulwegs, aber allein auf den Herrgott will sich Sabine Meierhofer nicht verlassen. Der Herrgott konnte auch damals nur zuschauen, als ihre Schwester den Weg entlang zur Schule marschierte, als ein Bulldog ausscherte, um das Mädchen zu überholen. Die Deichsel des Spritzenanhängers rutschte aus der Kupplung, der Anhänger schleuderte über den Weg, eine spitze Düse bohrte ein Loch in den Kopf der kleinen Susanne.

Das war vor 24 Jahren, Susanne hat knapp überlebt, aber damals hatte Sabine Meierhofer furchtbare Angst um das Leben ihrer Schwester. Sie dachte, sie hätte die Angst inzwischen hinter sich. Dann kam der Brief aus dem Landratsamt.

Schulweg von Kindern
:Taxi Mama

Weil sie besorgt sind, fahren viele Eltern ihren Nachwuchs mit dem Auto zur Schule - was zu zahlreichen Problemen führt. Manche Städte suchen jetzt nach kreativen Lösungen.

Von Susanne Höll

Sabine Meierhofer sitzt auf der Eckbank in der Stube ihres Bauernhofs in Aham (Landkreis Landshut), neben ihr sitzt ihr Mann Walter, auf dem Tisch liegt das Schreiben des Landratsamts. "Da zieht es dir die Schuhe aus", sagt sie und deutet auf die entscheidenden Zeilen. Der Schulweg ihres Sohnes "liegt unter der Zumutbarkeitsgrenze" von drei Kilometern, es handle sich "nicht um einen besonders gefährlichen" Weg und deswegen: "kein Anspruch auf Beförderung" - kein Bus also, der ihren Sohn zu Hause abholt. Der elfjährige Julian (alle Namen geändert) muss zu Fuß zur nächsten Haltestelle gehen. Vorbei an dem Holzkreuz, dem Baum und dem Bankerl, auf demselben Weg, auf dem seine Tante Susanne fast totgefahren wurde.

Na gut, könnte man sagen, so ist das halt mit Gesetzen: Irgendwo muss man eine Grenze ziehen, beim Schulbeförderungsgesetz liegt die Grenze für ein elfähriges Kind bei drei Kilometern und weil es in Julians Fall knapp zwei Kilometer bis zur nächsten Bushaltestelle sind, muss er zu Fuß gehen, basta. Aber so einfach ist das nicht, findet Sabine Meierhofer, deshalb hat sie eine Petition beim bayerischen Landtag eingereicht. Sie fordert, die Drei-Kilometer-Regelung abzuschaffen.

Man müsse sich das nur mal durchrechnen: Ein Fußgänger braucht für einen Kilometer etwa zwölf Minuten, ein trödelndes Schulkind noch länger. Bei etwas weniger als drei Kilometern muss ein Kind also 40 Minuten laufen. Zweimal pro Tag, in der Früh und nach der Schule. "Nicht zumutbar", sagt Sabine Meierhofer - schon gar nicht für ihren Sohn.

Eltern haben Angst vor Belästigung

Denn vor vier Jahren, auf einer Hochzeitsfeier, hat ein Freund der Familie versucht, Julian zu missbrauchen. Er hat ihn gepackt, in die Toilette eines Gasthofs geschleppt, wollte ihm die Hose runterziehen. Julian konnte abhauen, doch die Sache beschäftige ihn heute noch, sagt seine Mutter. Nachdem Sabine und Walter Meierhofer den Mann angezeigt hatten, stellte sich heraus, dass es ein weiteres Opfer gab.

Unterjoch im Allgäu
:Zwergschule muss schließen

100 Kurven und die höchste Bundesstraße Bayerns: Die Grundschüler von Unterjoch müssen sich auf einen beschwerlichen Schulweg einstellen. Nur fünf Kinder haben sich für das neue Schuljahr angemeldet - das sind selbst für eine Zwergschule zu wenig. Die Alternativen sind überschaubar.

Von Tina Baier

Der Mann hatte seinen damals vierjährigen Patensohn mehrfach schwer sexuell missbraucht. Inzwischen sitzt der Mann im Knast, "aber ich habe Angst, wenn er wieder raus kommt", sagt Sabine Meierhofer. Sie fürchtet, dass er Julian auf dem Schulweg auflauern, dass er ihm etwas antun könnte - um sich zu rächen, dass dessen Eltern ihn angezeigt haben.

Auf dem Schulweg sei sein Sohn einem Angriff schutzlos ausgeliefert, sagt Walter Meierhofer. Weil der Bub so weit zu Fuß gehen müsse, "muss er ja spätestens um viertel nach sechs los, um diese Uhrzeit ist es das halbe Jahr dunkel". Und wenn sich links und rechts des Schulwegs erst der Mais türmt, dann könne ein Angreifer noch leichter zuschlagen. Alles Quatsch, findet das Landratsamt, der Schulbub laufe zwar "über mehrere hundert Meter" fernab der nächsten Wohnsiedlungen, aber trotzdem "in Sicht- und Rufweite zu Wohnbebauung und nicht in einer schutzlosen Situation", heißt es in einem Schreiben. Ein Widerspruch, findet Walter Meierhofer, und außerdem: "Da draußen schrei mal jemandem um sechs in der Früh. Da wird dich mit Sicherheit keiner hören."

Das Landratsamt ist hartnäckig, dabei bietet das Gesetz durchaus Raum für Ausnahmen. Etwa wenn der Schulweg zwar keine drei Kilometer lang ist, dafür aber besonders gefährlich. Die Meierhofers finden, es gäbe eine Reihe von Gründen, um in Julians Fall eine Ausnahme zu machen: Es gibt keinen Gehweg auf der Straße, keine Beleuchtung, kein Tempolimit, dazu zwei Kurven, die selbst das Landratsamt als "scharf" und "unübersichtlich" bezeichnet.

Und dann ist da ja noch der Mann, der Julian missbrauchen wollte und in einem Jahr frei kommen könnte. Doch auf Einzelschicksale kann oder will das Landsratsamt keine Rücksicht nehmen. Die Berücksichtigung früherer sexueller Übergriffe "ist in den gesetzlichen Grundlagen des Schülerbeförderungsrechts nicht vorgesehen", teilt das Amt auf Anfrage mit.

Sabine Meierhofer findet, das Landratsamt ziehe sich stur auf Paragrafen zurück statt die Wirklichkeit ernst zu nehmen. Sie glaubt, dass es dem Amt allein darum gehe, Kosten zu sparen. Es gebe ja bereits einen Bus, der die Kinder der umliegenden Dörfer zur Haltestelle in der Ortsmitte bringt. Von dort aus könnte Julian in den Bus nach Vilsbiburg steigen, wo er seit Herbst auf die Realschule geht. Doch würde der Bus einen Abstecher zum Hof der Meierhofers machen, würde dies einen Umweg von vier Kilometern bedeuten und Mehrkosten von 1520,31 Euro im Jahr. Diese Summe hat das Landshuter Landratsamt auf Anfrage mitgeteilt.

Das Nachbarmädchen wurde früher abgeholt

Der Fall der Meierhofers ist auch deshalb merkwürdig, weil das Nachbarmädchen täglich vom Bus abgeholt worden war, bis es vor fünf Jahren die Schule beendete. Dass dies plötzlich nicht mehr geht, rechtfertigt das Landratsamt damit, dass sich die Streckenführung der Buslinie inzwischen geändert habe und damals "kein Umweg notwendig" gewesen sei und deswegen auch "keine Mehrkosten" angefallen seien. Sabine Meierhofer hält das für eine Ausrede. Sie hat da eine andere Theorie: "Der Nachbar war damals der Bürgermeister und der hat wahrscheinlich einen besseren Draht ins Landratsamt gehabt als wir."

Zurzeit fährt übrigens ein Bus, extra für Julian - allerdings nur befristet und nur deshalb, weil er sich kürzlich mehrere Wirbel gebrochen hat und nicht gut laufen kann. Deshalb werden die Meierhofers weiter kämpfen. Vor dem Petitionsausschuss haben sie immerhin schon erstritten, dass die Behörden sich den Schulweg noch einmal genau anschauen. Die Meierhofers hoffen, dass die Beamten diesmal zu einem anderen Urteil kommen - statt sich weiterhin nur auf den Herrgott zu verlassen.

© SZ vom 17.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: