SZ-Serie: Schauplätze, Folge 4:Das Haus der Erinnerungen

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Alois Alzheimer beschrieb als Erster die nach ihm benannte Gehirnerkrankung, an der alleine in Deutschland 1,2 Millionen Menschen leiden. In seinem unterfränkischem Geburtsort Marktbreit ist dem Leben des Psychiaters eine Ausstellung gewidmet

Von Dietrich Mittler, Marktbreit

Die Frau, deren Bild hoch oben auf dem Biedermeierschrank den ganzen Raum dominiert, hat auch hier im unterfränkischen Städtchen Marktbreit ihren Platz gefunden. Auguste Deter, die Gattin eines Frankfurter Eisenbahn-Kanzlisten - sie war es, bei der erstmals die verheerenden Folgen der Alzheimer-Demenz entdeckt wurden. Eine Krankheit, die den Betroffenen erst ihr Gedächtnis raubt und schließlich alles, was sie einmal als Individuum ausgemacht hat. Deters Augen wirken entrückt und zugleich verzweifelt. Könnten diese Augen noch sehen, so hätte die auf dem Bild 51-jährige Frau wohl diesen Buben wahrgenommen, der von der Wand gegenüber keck in die Welt blickt: Alois Alzheimer als zweijähriges Kind, geboren zu Marktbreit am 14. Juni 1864.

Einen Moment lang erscheint es so, als sei in diesem Haus in der Ochsenfurter Straße Nr. 15 a die Zeit stehen geblieben, um die Sedimente vieler Jahre freizugeben: Alzheimer als glücklicher Familienvater, Fotos von einzelnen Stationen seines Lebens wie Frankfurt, München und Weßling im Fünfseenland, eine helle Büste, die gravitätisch darauf hinweist, dass dieser nur 51 Jahre alt gewordene Arzt eine Entdeckung gemacht hat, die die Hirnforschung revolutionierte. Und dann dieses Mikroskop, mit dessen Hilfe er Zeichen einer Gehirnstörung entdeckte, die schließlich nach ihm benannt wurde.

Plötzlich aber ist es mit der Stille vorbei. Im Schloss der Außentür sucht sich ein Schlüssel seinen Weg. Es klackt, wie nur alte Schlösser klacken können, die Tür geht auf, und hinein huscht Ulrike Zink, Gästeführerin der Stadt Marktbreit. "Das ist das Geburtshaus von Alois Alzheimer", sagt sie, strahlt gewinnend, um dann in gleich mal ins Detail zu gehen: "Der Alois war das zweite von insgesamt acht Kindern des Notars Eduard Alzheimer in drei Ehen." Zink sagt das im lässigen Tonfall der Aschaffenburger Gegend, aus der sie stammt. Und in der kommt man gleich auf den Punkt: "Die Kinder kamen hier ja wie die Orgelpfeifen", sagt sie. Alois Alzheimers Mutter, so sagt Zink, sei Barbara Theresia Alzheimer gewesen, eine geborene Busch. Eduard Alzheimer hatte sie geehelicht, nachdem seine erste Frau, die Zwillingsschwester von Barbara Theresia, 1862 kurz nach der Geburt ihres Sohnes Karl gestorben war.

Ulrike Zink - verheiratet mit einem Marktbreiter Polizisten - entschied sich, Gästeführerin zu werden, nachdem einer der beiden Vorgänger sein Amt aus Altersgründen aufgab und der andere beim Hantieren im Kirschbaum runtergefallen war, was er aber Gottlob überlebte. "Hier kennt jeder jeden", sagt sie, "es ist halt ein kleiner Ort." Alois Alzheimer jedoch war hier offenbar in Vergessenheit geraten. "Der Alois hat aber auch nur zehn Jahre hier gelebt, dann kam er aufs Gymnasium. Nach Aschaffenburg, wohin ihm später die ganze Familie folgte", sagt Zink. Sie macht Halt vor einem Foto, das Alzheimer mit seiner Frau Cecilie und den Kindern zeigt: "Man sieht den Alois Alzheimer immer nur aus dieser Perspektive. Als er in Würzburg studiert hat, war er in einer schlagenden Studentenverbindung", sagt sie. Schlussfolgerung: Der bei der Mensur erworbene Schmiss erschien Alzheimer nicht fotogen.

Geschichte und Geschichten, das ist es, was Ulrike Zink fasziniert. Das Alzheimer-Geburtshaus sei nicht der klassische Touristen-Renner, sagt sie. Und wenn, dann kämen die Gäste meist aus dem Ausland - insbesondere aus Japan, wo Alois Alzheimer als Instanz gilt, während Anwohner der Ochsenfurter Straße das eher distanziert sehen: "Nää, dass de Alzheimer hier geborn wordde is, des stört misch überhaupt ned", meint eine Nachbarin. Oft führt Zink Ärztegruppen. "Besuche am besten anmelden bei der Tourist-Information Marktbreit, Telefon 09332/ 591595", sagt sie.

Im oberen Stockwerk weist Zink auf ein Dokument: Alzheimers Vortrag bei der "Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte in Tübingen", bei der er 1906 seine Erkenntnisse vorstellte. Er wurde kaum beachtet, da sich alle Aufmerksamkeit auf einen gewissen C.G. Jung richtete. Der referierte über die Psychoanalyse. Die Erkrankung der Auguste Deter, an der in Deutschland aktuell geschätzte 1,2 Millionen Menschen leiden, interessierte nur am Rande.

Deters Krankenakte galt lange als verschollen. Gefunden wurde sie erst auf Initiative von Konrad Maurer, selbst ein anerkannter Psychiater. "1995, in einem völlig verdreckten Aktenkeller", sagt Maurer. Auf Alzheimers Erkenntnissen aufbauend, hat er unter anderem neue Testmethoden entwickelt. Mit seiner Frau Ulrike hat er auch Bücher über Alzheimers Leben verfasst. Seine Frau gestaltete das Marktbreiter Haus als Gedenk- und Tagungsstätte, im Auftrag der Firma Lilly - einem Pharmaunternehmen, das sich aktiv am Kampf gegen die Alzheimer-Erkrankung beteiligt.

Als Ulrike Zink am Ende ihrer Führung das Alzheimer-Haus verlässt, fällt ihr ein Satz der Auguste Deter ein, den sie zu Alzheimer sagte: "Ich habe mich sozusagen verloren." Die Eingangstür in der Ochsenfurter Straße 15 a fällt ins Schloss. Stille.

© SZ vom 11.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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