Soziales:Liste der Versäumnisse

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Sozialverband prangert fehlende Barrierefreiheit in Bayern an

Von Dietrich Mittler, München

Susanne Becker hat am Dienstag gar nicht erst das Haus verlassen, als sie durchs Fenster ihrer Wohnung den vielen Schnee auf den Wegen sah. "Zu viele Hindernisse für mich", sagte sich die im oberbayerischen Taufkirchen lebende Rollstuhlfahrerin. Barrieren gibt es allerdings auch an wärmeren Tagen für sie mehr als genug. Zwar dürfe sie gewisse Züge der Bahn kostenlos nutzen, berichtet sie, doch was nutze ihr das? "Ich komme gar nicht allein in den Zug rein, weil die Zugänge zu den Bahnsteigen für Menschen mit Behinderung unüberwindbare Hindernisse darstellen", sagt sie. Kaufhaus-Lifte machen ihr ebenfalls das Leben schwer - die Knöpfe, die sie gerne drücken würde, sind oft nicht in ihrer Reichweite.

In Bayern, das zeigte nun auch das VdK-Forum "Inklusion ist machbar", mag sich zwar einiges für Menschen mit Behinderung verbessert haben, aber im Grunde gilt immer noch: Sie werden an vielen Stellen behindert, ihr Leben so zu führen, wie sie es gerne täten. "Wir wollen keine Ausreden mehr gelten lassen", propagiert nun der Sozialverband in München. VdK-Landesgeschäftsführer Michael Pausder präsentierte auf der zweitägigen Veranstaltung in München eine Liste der Versäumnisse. Demnach ist im Freistaat nur jede sechste Arztpraxis rollstuhlgerecht. "Damit belegt Bayern im Bundesvergleich den 13. Platz", sagt Pausder. Im Klartext: Platz 13 bei 16 Bundesländern, also weit, weit hinten. Nicht einmal fünf Prozent der Praxen hätten Behindertenparkplätze, und sage und schreibe gerade einmal ein Prozent der Arztpraxen in Bayern biete Orientierungshilfen für sehbehinderte Menschen.

Doch das ist nicht das einzige Manko, das Pausder anprangert. Mitte 2015, so zählt er auf, seien "erst 360 der 1057 Bahnhöfe in Bayern barrierefrei" gewesen. Etwa zur gleichen Zeit habe die bayerische Staatsregierung angegeben, "dass momentan nur 40 Bahnhöfe zum barrierefreien Umbau vorgesehen sind". Wie viele Menschen sich über die wenig behindertengerechten Zugänge zu Bahnsteigen ärgern - sie treiben übrigens bisweilen auch Mütter mit Kinderwagen oder alte Menschen zu Verzweiflung -, zeigt neuerdings eine interaktive Landkarte im Internet, erreichbar unter www.weg-mit-den-barrieren.de, "wo jedermann ärgerliche Alltagsbarrieren eintragen kann", wie Pausder den Forumsteilnehmern mitteilte.

Auch Bayern ist auf dieser Deutschlandkarte voll von Markierungen: "Kein rollstuhlgerechter Zugang zu den Gleisen", wird etwa aus Würzburg gemeldet. Im schwäbischen Günzburg wiederum heißt es über die dortige Volkshochschule: "Wir Gehörlosen haben ein Recht auf Erwachsenenbildung. Die Kursangebote sind leider nicht barrierefrei. Man behauptet, es ist kein Geld da für Gebärdendolmetscher." Und so von der Bildung ausgeschlossen zu werden, das sei schlicht "unverschämt".

Im niederbayerischen Waldkirchen wiederum beschwerte sich ein Mensch mit Behinderung: "Arztpraxen und Geschäfte meist nur über Treppen erreichbar, keine Behindertentoilette am Stadtplatz, fehlende behindertengerechte Wohnungen." Zu Letzterem könnte Susanne Becker aus Taufkirchen einiges berichten - sie sucht seit zehn Jahren eine solche Wohnung.

Der Sozialverband VdK geht davon aus, dass sich noch weit mehr Menschen demnächst mit ihren Sorgen auf der Karte eintragen. Grund genug gibt es: "In den nächsten Jahren", so zitierte Pausder aus einer Studie, "werden in Bayern fast 354 000 barrierefreie Wohnungen fehlen." Und: Von den 3150 staatlichen Gebäuden in Bayern, die öffentlich zugänglich sind, sind 2300 nicht barrierefrei - das sind 73 Prozent.

Dass es sich bei Fragen der Barrierefreiheit nicht um ein Minderheitenproblem handelt, zeigen folgende Zahlen: Schon jetzt haben knapp zwölf Prozent der bayerischen Bevölkerung - also mehr als 1,5 Millionen Menschen - mit einer Behinderung zu kämpfen, die meisten von ihnen gar mit einer schweren. Welche Probleme das auf dem Arbeitsmarkt macht, erläuterte Ulrike Mascher, die Vorsitzende des Sozialverbands. Da gebe es zum einen das Problem, dass Arbeitsabläufe "nicht an die Belange von Menschen mit Behinderung angepasst sind". Hinzu kämen bauliche Hindernisse. "Die größten Barrieren aber bestehen im Kopf vieler Menschen", sagte Mascher. Berührungsängsten müsse schon im inklusiven Schulunterricht begegnet werden. Doch auch da gebe es noch viel zu tun. Die Zeit sei reif für ein "Gesamtkonzept", hieß es schließlich.

© SZ vom 02.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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