Scientology-Aussteiger im Gespräch:"Ich habe als Kind gelernt, Menschen zu kontrollieren"

Als Kind kam Markus Stuckenbrock zu Scientology, doch er schaffte den Absprung. Sein Bruder blieb dabei - und starb. In einem TV-Film erhebt Stuckenbrock deshalb schwere Vorwürfe gegen die Organisation. Ein Gespräch über ein Familiendrama sowie Tom Cruise und Katie Holmes.

Tobias Dorfer

Als er hörte, dass Katie Holmes die Scheidung von Tom Cruise eingereicht hat, atmete Markus Stuckenbrock auf. Wie viele andere vermutet auch er, dass Holmes so den Einfluss von Scientology auf Tochter Suri verhindern will. Stuckenbrock weiß, wovon er spricht. Als Kind geriet er selbst in die umstrittene Organisation. Inzwischen hat sich der Neu-Ulmer von Scientology losgesagt. Sein Bruder Uwe schaffte den Absprung nicht. Er starb 2008 in den USA. In der SWR-Dokumentation "Die Seelenfänger", die im Jahr 2010 ausgestrahlt wurde, erhebt Markus Stuckenbrock deswegen schwere Vorwürfe gegen Scientology. Er glaubt, dass die umstrittene Organisation mit am Tod seines Bruder schuld sei, da sie dem an Multipler Sklerose Erkrankten die notwendigen Medikamente und Therapien vorenthielt.

Markus Stuckenbrock, Scientology

Markus Stuckenbrock kämpft seit Jahren gegen Scientology.

(Foto: privat)

Süddeutsche.de: Herr Stuckenbrock, was dachten Sie, als Sie hörten, dass sich Katie Holmes von Tom Cruise getrennt hat?

Markus Stuckenbrock: Meine erste Reaktion: Gut gemacht, Katie Holmes. Vor allem wegen der Tochter Suri, die meiner Meinung nach in großer Gefahr schwebte.

Süddeutsche.de: Es wird gemutmaßt, dass Katie Holmes mit der Scheidung verhindern wollte, dass Scientology Einfluss auf Suri bekommt.

Stuckenbrock: Genau. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass Scientology für Kinder nicht gut ist. Scientologen glauben, Kinder sind Erwachsene in kleinen Körpern. So werden sie behandelt. Sie bekommen keine Liebe und keine Fürsorge. Das ist in den Leitlinien nicht vorgesehen. Diese Doktrin führt dazu, dass Kinder in Scientology komplett vernachlässigt werden, was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Eltern, die sich an Hubbards Doktrin halten, stellen ihre Kinder meist an die zweite Stelle. Es kann sein, dass sie kein Geld für die Hochzeit oder das Studium erhalten oder dass die Eltern, die für Scientology arbeiten, nicht zum Solokonzert in die Schule kommen. Die Organisation bekommt Liebe, Aufmerksamkeit und das Geld.

Süddeutsche.de: Suri Cruise ist heute sechs Jahre alt und wurde in die Organisation hineingeboren. Sie selbst stießen als Kind zu Scientology. Wie kam es dazu?

Stuckenbrock: Ich war elf Jahre alt. Unsere Familie hatte es damals nicht leicht. Mein jüngerer Bruder litt an einem schweren Herzfehler, an dem er später starb. Außerdem kriselte es in der Ehe meiner Eltern. Mein Vater ist 1975 in München ganz klassisch von einem Scientologen angesprochen worden. Ich denke, er war damals einfach anfällig für die Botschaften Hubbards.

Süddeutsche.de: Wussten Sie damals, was Scientology ist?

Stuckenbrock: Nein. Wir sind als Familie einfach reingerutscht. Ich selbst wurde ziemlich schnell zu meinem ersten Kommunikationskurs für Kinder geschickt. Das war ein ganzes Wochenende in einer Hütte auf der Schwäbischen Alb. Ich musste auf einem anderen Kurs zu Kindern und Erwachsenen sagen: "Schau auf diese Wand. Danke. Gehe hinüber zu dieser Wand. Danke." Das mag jetzt harmlos klingen, aber das ist es nicht. Ich habe als Elfjähriger gelernt, andere Menschen zu kontrollieren.

Süddeutsche.de: Wie ging es Ihnen als Kind bei Scientology?

Stuckenbrock: Für mich war das belastend. Als sich meine Eltern im Jahr 1980 scheiden ließen, zogen wir Kinder zu unserer Mutter und brachen den Kontakt zur Organisation ab. Damals war ich 16 Jahre alt. Mein Vater machte dann Karriere bei Scientology, er ist heute einer der führenden Köpfe in Süddeutschland. Ich war in der zehnten Klasse, als er wieder Kontakt zu mir aufnahm.

Süddeutsche.de: ... und Sie sind sofort wieder in die Organisation gerutscht?

Stuckenbrock: Ja. Anfang der achtziger Jahre war die Friedensbewegung stark, es gab Menschenketten gegen die Stationierung von Pershing-Raketen. Scientology verspricht eine Welt ohne Kriege und Krankheiten. Dafür war ich anfällig. Mein Vater lud mich zu einem Vortrag ein und dann bekam ich das Angebot, für die UImer Scientology-Mission zu arbeiten. In der Schule lief es bei mir damals auch nicht gut, deshalb habe ich das Angebot angenommen. Ich brach das Gymnasium ab und widmete mich ganz der Organisation. Bereits ein paar Wochen später wurde ich monatelang zur Sea Org nach Kopenhagen und später dann in die USA geschickt. (Die Sea Org ist eine Elitegruppe innerhalb von Scientology, von der de facto die Macht und Kontrolle über die Organisation ausgeht. Scientology selbst bezeichnet die Sea Org als "Ordensgemeinschaft"., Anm. d. Red.)

Süddeutsche.de: Was war der Auslöser, dass Sie Scientology später erneut den Rücken kehrten?

Stuckenbrock: Das war ein längerer Prozess. Ich kam aus der Sea Org in Florida zurück und gab in Ulm Kommunikationskurse, mit denen ich etwa 150 Mark im Monat verdiente. Davon kann man nicht leben. Dann hatte ich Ärger mit dem Chef der Öffentlichkeitsabteilung. Er hat mir meine Studenten weggenommen, um ihnen Auditings (von Scientology zu Therapiezwecken angewandte Gesprächstechnik, Anm. d. Red) zu verkaufen. Dann behauptete er, meine Kursstatistik sei schlecht. Das wiederum führte dazu, dass ich noch weniger verdiente. Ich arbeitete Tag und Nacht und keiner dankte es mir. Irgendwann hat es mir dann gereicht.

"Statt Medikamente bekommen die Kranken Säfte und vitaminreiche Kost"

Süddeutsche.de: Wie lief die Flucht?

Markus Stuckenbrock, Scientology

Bild aus glücklichen Tagen: Markus Stuckenbrock mit seinem Bruder Uwe.

(Foto: privat)

Stuckenbrock: Ich bekam die Aufgabe, in Ulm Menschen anzusprechen. Stattdessen bin ich zum Bahnhof gegangen habe mich in den Zug nach Friedrichshafen zu meiner Mutter gesetzt. Scientology hat dann noch oft angerufen, aber meine Mutter und meine Großmutter haben das alles abgeblockt.

Süddeutsche.de: Bei Ihnen ging die Geschichte einigermaßen glimpflich aus. Ihr älterer Bruder Uwe hat den Absprung nicht geschafft.

Stuckenbrock: Nein, er kam mit 16 Jahren in die Sea Org. Erst lebte und arbeitete er in Großbritannien und später im internationalen Scientology-Hauptquartier in den USA. Damit war er für die Familie verloren. Es war, als ob er in einem Schwarzen Loch im Weltall verschwunden wäre. Verpflanzt in die USA mit 17 Jahren. Dann wurde es noch schwieriger mit dem Kontakt. Wenn wir Uwe sprechen wollten, konnten wir bei der Sea Org in Los Angeles anrufen. Mit Glück hat mein Bruder dann Tage später zurückgerufen. Aber wirklich erhellend waren diese Gespräche nicht.

Süddeutsche.de: Wissen Sie, was seine Aufgabe bei Scientology war?

Stuckenbrock: Inzwischen ja. Er war im internationalen Hauptquartier, wo auch Scientology-Chef David Miscavige wohnt, tätig. Uwe war Sicherheitschef in diesem Hauptquartier. Dort arbeitet die oberste Elite.

Süddeutsche.de: Im Jahr 2008 meldete sich Scientology und teilte Ihnen mit, dass Ihr Bruder gestorben sei.

Stuckenbrock: Mein Vater rief mich an und erzählte es mir. Sechs Jahre zuvor hatte ich zum ersten Mal gehört, dass Uwe an Multipler Sklerose erkrankt war, aber mehr wusste ich damals nicht. Mit einem Kamerateam des SWR bin ich 2010 in die USA gegangen, um die Geschichte meines Bruders zu rekonstruieren. Dort erfuhr ich, dass bereits 1988 die ersten Symptome der Krankheit auftraten.

Süddeutsche.de: Und trotzdem arbeitete Ihr Bruder noch für die Sea Org?

Stuckenbrock: Ja. Als die Krankheit dann später ausbrach, kam er meinen Recherchen zufolge in ein Scientology-Straflager*. Ich glaube, dass mein Bruder als Sicherheitschef zu viel wusste. Außerdem habe ich erfahren, dass er mindestens einmal einen Fluchtversuch unternommen hat. Deshalb haben sie ihn da reingesteckt.

Süddeutsche.de: Was werfen Sie Scientology vor?

Stuckenbrock: Dass die Organisation mitverantwortlich am Tod meines Bruders ist. 1996 - acht Jahre, nachdem die ersten MS-Symptome auftraten - war er zum ersten Mal bei einem Arzt. Bei meinen Nachforschungen in den USA bin ich in den Besitz von Krankenunterlagen meines Bruders gelangt, die meinen Verdacht bestätigen, dass Uwe nicht die dringend nötige medizinische Versorgung erhalten hat.

*) Die ehemalige AG Scientology in der Hamburger Behörde für Inneres wirft Scientology vor, unter der Bezeichnung RPF (Rehabilitation Project Force) Programme zur Rehabilitation "abweichlerischer" Mitglieder zu betreiben. Hierbei soll es nach Recherchen der Behörde, die zu den Ergebnissen im Jahr 2000 eine Broschüre veröffentlichte, unter anderem zu Bestrafung und sozialer Isolierung gekommen sein. Die Broschüre ist noch auf den Internetseiten der Stadt Hamburg abrufbar. Scientology bestätigt auf einer offiziellen Internetseite die Existenz der RPF. Das "Projekt zur Rehabilitierung" sei "eine Möglichkeit der Wiederingliederung in den Orden nach schwerem Fehlverhalten", geschehe jedoch auf freiwilliger Basis und sei kein Gefängnis oder Straflager. In Deutschland gebe es eine solche Einrichtung nicht.

"Mein Bruder war im Straflager"

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Da waren sie noch ein Herz und eine Seele: Tom Cruise und Katie Holmes im Juni 2010.

(Foto: AFP)

Süddeutsche.de: Warum ist Ihr Bruder nicht früher zum Arzt gegangen?

Stuckenbrock: Ich glaube, es wurde ihm verboten. Scientology-Gründer L. Ron Hubbard hat behauptet, 90 Prozent aller Krankheiten lassen sich durch Auditing in den Griff bekommen. Statt Medikamente bekommen die Kranken Säfte und vitaminreiche Kost. Aber mein Bruder hat diesen Lehren ja auch selbst geglaubt. Wir haben versucht, ihm aus Deutschland Medikamente zu schicken. Ohne Erfolg.

Süddeutsche.de: Multiple Sklerose ist nicht heilbar.

Stuckenbrock: Das stimmt. Aber meine Mutter war in der Behindertenpflege tätig und ich selbst arbeite ebenfalls im sozialen Bereich. Wenn wir früher von der Krankheit meines Bruders früher erfahren, hätten wir ihn in Deutschland pflegen können. In den USA hat er unnötig leiden müssen. Wir hätten alles dafür getan, ihn nach Hause zu holen.

Süddeutsche.de: Nach Ihren Recherchen haben Sie in den USA einen Anwalt eingeschaltet, um den Fall juristisch aufzuarbeiten. Was kam dabei heraus?

Stuckenbrock: Ich war in Kontakt mit einem Anwalt. Aber letztlich ist die Sache am Geld gescheitert. Ich habe hier in Deutschland eine Familie, die mir wichtiger ist und wollte deshalb nicht den finanziellen Ruin riskieren. Vielleicht hätte sich Scientology am Ende doch wieder rausgewunden.

Süddeutsche.de: Scientology hat sich zu Ihrem Fall geäußert. Die deutsche Vizepräsidentin Sabine Weber hat zu Jetzt.de gesagt, Ihr Bruder habe eine "intensive medizinische Betreuung" erhalten.

Stuckenbrock: Ich kann Ihnen schildern, wie diese intensive medizinische Betreuung aussah. Der erste nachweisbare Kontakt zum Arzt fand 1996 statt, acht Jahre nachdem die ersten Symptome auftraten. Dieser Arzt sagte, man müsse einen Plan aufstellen, um die Krankheit zu bekämpfen. Nichts geschah. 2002 war Uwe noch einmal beim Arzt. Der hat ihm eine Wassertherapie verordnet. Das ist diese medizinische Betreuung. Medikamente wurden abgelehnt, das weiß ich über meine Mutter. Es wurde immer nur der alternative Weg beschritten und dazu Auditing.

Süddeutsche.de: Scientology sagt auch, Ihr Bruder sei nie in einem Straflager gewesen.

Stuckenbrock: Auch dafür gibt es zahlreiche Zeugen. Einige erzählen davon in der SWR-Reportage "Die Seelenfänger". Mein Bruder war definitiv im Straflager.

Süddeutsche.de: Ihr Vater hat Ihre Familie damals an Scientology herangeführt. Werfen Sie ihm das heute vor?

Stuckenbrock: Das ist eine schwierige Frage. Natürlich werfe ich es ihm vor. Anderseits weiß ich auch, wie anfällig er damals war. Ich hätte gerne Kontakt zu meinem Vater. Aber er hat diesen Kontakt nach der Ausstrahlung der SWR-Dokumentation, die Uwes Geschichte erzählte, im Jahr 2010 komplett abgebrochen.

Süddeutsche.de: Sie haben selbst auch für Scientology gearbeitet und Menschen für die Organisation angeworben. Wie geht es Ihnen damit?

Stuckenbrock: Mein Job war ja vergleichsweise harmlos. Ich war in der Öffentlichkeitsarbeit und gab Kommunikationskurse. Kürzlich jedoch habe ich in Ulm einen Scientology-Stand gesehen. Ich ging hin und wollte mit den Leuten über die Geschichte meines Bruders sprechen. Die Frau, mit der ich sprach, kam mir bekannt vor. Dann erkannte ich, dass sie eine ehemalige Studentin von mir ist. Jetzt ist sie eine überzeugte Scientologin. Diese Erkenntnis hat mir sehr wehgetan, weil ich sie damals in die Klauen dieser Organisation gelockt habe.

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