Prozess um Zugunglück:So stark war der Fahrdienstleiter von Bad Aibling abgelenkt

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Ein Denkmal erinnert an die Opfer des Zugunglücks von Bad Aibling. (Foto: AFP)
  • Vor dem Zugunglück von Bad Aibling spielte der Fahrdienstleiter minutenlang mit dem Handy.
  • Ein Gutachter sagt: Der Angeklagte sei "zu 72 Prozent" mit Spielen beschäftigt gewesen.
  • Als Michael P. sein Smartphone weglegte, fuhren die Züge bereits unaufhaltsam aufeinander zu.

Aus dem Gericht von Annette Ramelsberger

Am Morgen des Bahnunfalls von Bad Aibling hat der verantwortliche Fahrdienstleiter intensiv mit seinem Handy gespielt - schon vor seinem Dienstantritt um 4.45 Uhr, aber auch später während des Dienstes bis kurz vor dem Zusammenstoß der beiden Regionalzüge auf der eingleisigen Strecke bei Bad Aibling: mehr als eineinhalb Stunden lang. Beendet wurde das Spiel erst um 6.45 Uhr und 59 Sekunden - eine Minute vor dem Zusammenstoß, als der Fahrdienstleiter bereits vergeblich versucht hatte, einen Notruf abzusetzen.

Das geht aus dem Gutachten des Diplomingenieurs Dennis Pielken hervor, der das Handy des Angeklagten untersucht hat. Dem Fahrdienstleiter Michael P. wird vorgeworfen, durch sein Handyspiel am 9. Februar abgelenkt gewesen zu sein und dadurch verhängnisvolle Fehler gemacht zu haben, die zwölf Menschen das Leben kostete. Er ist wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.

Schwergerüsteter Kämpfer mit mannshohem Schwert

Die Richter am Landgericht Traunstein arbeiten sich an diesem fünften Verhandlungstag in eine fremde Welt ein: nicht in die der Bahn, die sie an den vergangenen Prozesstagen beschäftigt hatte, sondern in die der Fantasy-Spiele. Sie erfahren, dass sich der schwergerüstete Kämpfer, der mit seinem mannsgroßen Schwert auf dem Handybildschirm des Fahrdienstleiters herumwedelt, Mitkämpfer rekrutieren kann, dass er Waffen und Edelsteine verkaufen und verschiedene Werkzeuge miteinander verschmelzen kann - alles, um noch stärker zu werden und mehr Gegner besiegen zu können.

Dieses Spezialwissen ist wichtig, weil der Angeklagte Michael P. all das in den Minuten vor dem Unglück getan hat: Von 6.09 Uhr bis 6.40 Uhr hatte er sieben verschiedene Spielsessions, vier hat er erfolgreich beendet, drei wurden unterbrochen - warum, kann der Sachverständige nicht mehr nachvollziehen. Am wahrscheinlichsten, sagt er, ist, dass durch zu viele Angriffe die Lebensenergie des virtuellen Kämpfers sank und er deswegen zu Spielen aufhörte. Das kann recht schnell gehen. Als der Sachverständige das Spiel vorführt, heißt es schon nach kurzem: "Du bist tot!" Eine Minute ohne Aktion auf dem Bildschirm bedeutet regelmäßig den virtuellen Tod.

Laut Gutachter rekrutierte der Fahrdienstleiter in seiner Dienstzeit um 6.09 Uhr einen Mitspieler. Er war dann eine Minute lang aktiv in der Fantasy-Welt. Um 6.12 verkaufe er Dinge aus seinem Krieger-Inventar, um 6.15 Uhr erwarb er Edelsteine. Um 6.17 Uhr begann die zweite Spielsession, die unterbrach er allerdings nach 62 Sekunden.

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Von Daniela Kuhr

Bei der dritten Session um 6.19 Uhr war er 85 Sekunden in der Fantasywelt. Er holte sich eine Belohnung ab, erhielt ein Geschenk. Dann war er eine Minute wieder in der echten Welt. Dann das vierte Spiel, es dauerte 103 Sekunden. 45 Sekunden später schon begann das fünfte Spiel. Da war der Angeklagte sogar 242 Sekunden in seine Welt abgetaucht, knapp vier Minuten. Um 6.33 Uhr brach er ab, dann verzeichnet das System einen Chat - ob er aktiv eine Nachricht an einen Spieler sendete oder nur eine Nachricht empfing, ist nicht mehr nachzuvollziehen.

Um 6.35 Uhr startete das sechste Spiel. Und um 6.38 Uhr das siebte. 116 Sekunden ist der Angeklagte in seiner Welt bis genau 6.40 Uhr und 47 Sekunden. Von da an ist keine Aktion mehr zu verzeichnen. "Es könnte sein, dass das Handy abgelegt worden ist", sagt der Sachverständige. Vielleicht war der Fahrdienstleiter aber auch einfach mit seiner eigentlichen Arbeit beschäftigt. Denn da hatte er bemerkt, dass er einen Fehler gemacht hatte und versuchte dann, ihn wieder auszuwetzen - was zu immer neuen Fehlern führte. Um 6.45 Uhr und 59 Sekunden beendete der Fahrdienstleiter das Spiel aktiv. Da fuhren die Züge schon unaufhaltsam aufeinander zu.

Der Neuropsychologe Alexander Brunnauer legte die Spiele-Sessions und die Diensthandlungen des Fahrdienstleiters übereinander. In der kritischen Zeit zwischen 6.09 Uhr und 6.40 Uhr war er zu 72 Prozent mit Spielen beschäftigt. Vor allem beim Stellen der Fahrstraßen auf der eingleisigen Strecke. Als er die Sondersignale gab und den Notruf, bei dem er den falschen Knopf bediente, spielte er allerdings nichts.

Der Neuropsychologe hat Michael P. im November untersucht. Insgesamt habe Michael P. ein durchschnittliches bis überdurchschnittliches Aufmerksamkeitsvermögen, er habe auch komplexe Aufgaben gut lösen können. Allerdings habe er von Beginn des Jahres bis zum Unfallzeitpunkt immer mehr und immer länger gespielt. "So ein Spiel hinterlässt seine Spuren in der Leistungsfähigkeit", sagte der Psychologe.

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