Oberbayern:26-Jährige möglicherweise mehrere Jahre in Rosenheimer Wohnung festgehalten

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  • Polizisten haben bei der Zwangsräumung einer heruntergekommenen Wohnung in Rosenheim eine verwahrloste junge Frau gefunden.
  • Die 26-Jährige war dort möglicherweise über Jahre hinweg eingesperrt.
  • Sie soll ein eigenes Zimmer gehabt haben, ihre Mutter und ein Bruder im Jugendalter schliefen gemeinsam im größeren Wohnzimmer.
  • Als der Gerichtsvollzieher klingelte, hatte sich ihre Mutter im Treppenhaus mehrere Etagen hinabgestürzt.

Von Sebastian Beck und Matthias Köpf, Rosenheim

Eine junge Frau ist in Rosenheim möglicherweise jahrelang von ihrer Mutter gefangen gehalten worden. Die Polizei stieß zufällig auf die 26-Jährige, als die Wohnung am Dienstag zwangsgeräumt werden sollte. Der Entdeckung ging ein Drama voraus: Die 54-jährige Mutter stürzte sich das Treppenhaus hinunter und musste mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden.

"Es ist ein recht tragischer Fall", sagte Stefan Sonntag, der Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd. Nach ersten Informationen sollte die Wohnung am Dienstagmorgen zwangsgeräumt werden. Als sie klingelten, sollen der Gerichtsvollzieher und seine Begleiter gehört haben, wie sich die 54-jährige Mieterin im Treppenhaus aus dem zweiten Stock in den Keller stürzte.

Die Wohnung fanden die Beamten völlig vermüllt und heruntergekommen vor. Die Tür zu einem Zimmer sei abgeschlossen gewesen, sodass die Polizei sie eintreten musste. Dahinter entdeckten sie die "ebenso völlig verwahrloste" 26-Jährige, wie Sonntag weiter sagte. Mit der jungen Frau, die geistig behindert sei, könne man nicht sprechen. Sie sei in eine psychiatrische Fachklinik gebracht worden. Auch ihre schwer verletzte Mutter sei derzeit nicht ansprechbar. Bei den Behörden waren nur die beiden Frauen als Bewohnerinnen der Wohnung gemeldet.

Wie lange die 26-jährige Frau in der Wohnung festgehalten wurde und ob sie ständig in ein und demselben Raum eingesperrt war, konnten zunächst weder Staatsanwaltschaft und Polizei einschätzen. "Möglicherweise mehrere Jahre", sagte Sprecher Sonntag. Das müsse aber noch genauso geklärt werden wie die Frage, ob sie sich zwischenzeitlich frei in der Wohnung habe bewegen können. Die Ermittler wollen nun unter anderem die Nachbarn zu der Familie und den Lebensumständen befragen. Verschiedenste Straftaten, wie beispielsweise Freiheitsberaubung, seien denkbar.

Nach einem Bericht des Onlineportals Rosenheim24 sagte ein Nachbar, er habe immer wieder von Gerüchten gehört, aber die Tochter selbst nie zu Gesicht bekommen. Manchmal habe man Streitereien aus der Wohnung vernommen. Der Mann wohnt seit 2003 in der Siedlung der Stadt.

Die Siedlung in der Nähe des nördlichen Stadtrands ist nicht die beste Rosenheimer Wohnlage, doch die überwiegend dreigeschossigen Blocks aus der Nachkriegszeit sind vor einiger Zeit saniert worden und haben frische Anstrich und neue Balkone erhalten. Das Haus, aus dem die Familie ausziehen sollte, hat eine Etage weniger, aber noch zwei Wohnungen unter dem Dach. Dort waren an zwei schmalen, bodentiefen Fenstern am Nachmittag die Jalousien heruntergelassen, dahinter war ein Türflügel zum Lüften geöffnet.

Laut Polizeisprecher Sonntag haben in der Wohnung menschenunwürdige Zustände geherrscht. Die Tochter hatte demnach ein eigenes Zimmer, die Mutter und ein Sohn im Jugendalter schliefen gemeinsam im größeren Wohnzimmer - so erzählte es die direkte Nachbarin. Sie hatte die Tochter nach eigenen Angaben schon sehr lange Zeit nicht mehr gesehen. Nur im Sommer 2014 hätten Mutter und Tochter einmal zusammen im Hof gesessen.

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Die Familie hat seit vielen Jahren in dem Haus gelebt, aus dem sie am Dienstag endgültig ausziehen sollte. "Geahnt habe ich das schon lange Zeit, dass da was nicht in Ordnung ist", sagte die Nachbarin, die seit 17 Jahren auf derselben Etage wohnt. Hin und wieder habe man die Tochter gehört, wie sie an die Wände getreten oder geschlagen habe. Das aber habe sie stets auf die geistige Behinderung der jungen Frau zurückgeführt. Diese habe bis vor einigen Jahren auch eine nahe gelegene Einrichtung besucht. Der Vater der jungen Frau sei gestorben, als diese noch ein Kind gewesen sei, habe die Mutter immer erzählt. Hilfsangebote habe die Frau stets abgelehnt, sagte die Nachbarin. Die Frau habe angegeben, sie arbeite von zu Hause aus. Ein jüngerer Mann, der seit 2014 in dem Haus wohnt, wusste nach eigenen Angaben bis Dienstag nichts von der Existenz der Tochter.

Die 54-jährige Mutter liegt inzwischen mit schwersten Verletzungen in einer Klinik, ist aber außer Lebensgefahr. Die Polizei konnt sie am Dienstag nicht vernehmen. Die Tochter habe man sehr behutsam in eine Fachklinik gebracht, mit ihr sei eine Verständigung kaum möglich, sagte Sonntag. Man kümmere sich auch um weitere Angehörige, zu deren Schutz Sprecher Sonntag aber keine Details nennen wollte.

Rosenheims Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer (CSU) sprach von einer "menschlichen Tragödie". Zu möglichen Kenntnissen oder einer Mitverantwortung der Sozialbehörden wollte sich die Stadt nicht äußern.

© SZ vom 20.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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