Nürnberg:Rettung in letzter Minute

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Der kleine Leonardo mit seinen Eltern vor einem Jahr. Mehrere Personen sollen ihm Hilfe verweigert haben, sie müssen sich vor Gericht verantworten. (Foto: D. Karmann/dpa)

Im Berufungsprozess um ein schwer erkranktes Flüchtlingskind bestreitet der Arzt, er habe den Buben nur oberflächlich untersucht. Der Vater beharrt auf seinem Vorwurf, niemand habe seiner Familie helfen wollen

Von Katja Auer, Nürnberg

Leonardo hat ein rotes Spielzeugauto mit in den Gerichtssaal gebracht. Er sitzt auf dem Schoß seines Vaters und schneidet den Zuschauern fröhlich Grimassen. Fast fünf Jahre ist er jetzt alt und es ist ihm nicht anzumerken, dass er vor dreieinhalb Jahren beinahe gestorben wäre. Aber im Gesicht und an den Händen sind die Narben zu sehen von den mehr als zwei Dutzend Hauttransplantationen, die er seitdem überstehen musste. An der linken Hand fehlt ihm der halbe Ringfinger, ein Zeh wurde ihm amputiert und zwei Knochen am rechten Mittelfuß. Er hatte sich mit Meningokokken infiziert, Blutgerinnsel bildeten sich unter der Haut, überall hatte er schwarze Flecken. Mit diesem Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom wurde Leonardo im Dezember 2011 in die Klinik in Fürth eingeliefert und sofort ins künstliche Koma versetzt. Ein paar Stunden später hätte er vermutlich nicht mehr gelebt.

Vielleicht hätte es nicht so weit kommen müssen, wenn ein paar Leute schneller reagiert hätten. Überhaupt reagiert hätten. Das Amtsgericht Zirndorf verurteilte vor einem Jahr eine Verwaltungsangestellte wegen unterlassener Hilfeleistung und zwei Wachmänner des Lagers wegen fahrlässiger Körperverletzung zu Geldstrafen. Sie sollen die Bürokratie des Lagerlebens vorgeschoben und den verzweifelten Eltern und ihrem Sohn weder Krankenwagen noch Taxi gerufen, sondern sie mit Krankenschein und einem schlecht kopierten Stadtplan allein losgeschickt haben. Dünn bekleidet, bei Minusgraden. Dabei sollen die Mitarbeiter Krankheiten bei Kindern besonders ernst nehmen, so steht es in den Dienstvorschriften. Und sie hätten "auch bei oberflächlicher Betrachtung erkennen müssen, dass es sich um einen Notfall handelte", begründete der Richter vor einem Jahr sein Urteil. Leonardo hatte schwarze Flecken am Körper und soll kaum noch ansprechbar gewesen sein. Ein Autofahrer sammelte die Familie aus Serbien schließlich auf der Straße vor dem Lager auf und brachte sie zur Kinderärztin nach Oberasbach. Es sei offensichtlich gewesen, dass der Bub schwer krank war, sagt er.

"Organisierte Verantwortungslosigkeit" nennt Rechtsanwalt Hubert Heinhold, der die Familie vertritt, das, was in Zirndorf passierte. Die drei Verurteilten legten Berufung gegen das Urteil ein, die Familie daraufhin auch, ebenso wie der Staatsanwalt, der den Arzt bestraft sehen will. Der 63-Jährige hatte zwar mit dem Durcheinander an jenem Montagmorgen nichts zu tun, aber er untersuchte den Buben am Vorabend, als dieser Fieber hatte, sich erbrechen musste und apathisch war. Das Amtsgericht Fürth hatte ihn freigesprochen, aber nun sitzt er mit den schon einmal Verurteilten wieder auf der Anklagebank im Landgericht Nürnberg.

Er erzählt seine Version der Geschichte, ungehalten beinahe. Dass er den Jungen nur oberflächlich untersucht haben soll, hält er ganz offensichtlich für einen unerhörten Vorwurf. Er habe Leonardo gründlich untersucht, abgetastet, in Hals und Ohren geschaut. Einen fieberhaften Infekt habe er vermutet, wie ihn Kinder in dem Alter oft haben. Kein Grund zur Sorge also und schon gar keiner, den Jungen ins Krankenhaus zu schicken. Fieber gemessen habe er nicht, das sei nicht notwendig gewesen, erklärt er. Da reiche die Erfahrung. Er habe nichts versäumt. "Dass das so unglücklich gelaufen ist, gibt's immer wieder mal", sagt der Doktor.

Auch der jüngere Wachmann, 52, lässt seinen Rechtsanwalt die Vorwürfe zurückweisen. Er habe die Familie mit dem in eine Decke gewickelten Kind allenfalls kurz gesehen. Weder habe man ihn gebeten, einen Krankenwagen zu rufen, noch habe er jemanden abgewiesen. Mehr sagt er nicht. Der andere Wachmann, 69, will sich nicht zur Sache äußern. Der Berufungsprozess gegen die Verwaltungsangestellte, die den Ärzten als Krankenschwester assistierte, wurde abgetrennt. Sie ist zurzeit krank.

Leonardos Vater bleibt vor Gericht bei seinen Vorwürfen. Niemand habe ihnen helfen wollen, sagt der 27-Jährige. Niemand habe einen Krankenwagen rufen wollen, nicht einmal ein Taxi. Stattdessen sei er auf die Vorschriften verwiesen worden, wonach Asylbewerber zunächst einen Krankenschein brauchen, wenn sie einen Arzt aufsuchen wollen. Den gibt es in der Lageraußenstelle des Sozialamts, aber die war noch nicht geöffnet. Wenn es schnell gehen muss, ist eine Erstaufnahmeeinrichtung kein guter Ort. Vor einem Wachmann sei er sogar auf die Knie gefallen, erzählt der Vater, "ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte". Verzweifelt sei er gewesen und hilflos. Als er den Krankenschein endlich hatte, wurde er zu Fuß losgeschickt. Die Familie machte sich auf. Dabei kannte sie den Weg nach Oberasbach gar nicht.

Seine Frau, Leonardos Mutter, ist nicht mit nach Nürnberg gekommen. Sie ist schwanger, nicht reisefähig, außerdem belasteten sie die Ereignisse in Zirndorf psychisch immer noch schwer, sagt Rechtsanwalt Heinhold. Immerhin, es ist beinahe zynisch, sei der Asylantrag der Familie inzwischen bewilligt worden. Vor allem wegen Leonardos Erkrankung. Die Familie lebt jetzt in München, der Vater arbeitet als Verkäufer. Wenn der Prozess vorbei ist, will Heinhold Schmerzensgeld für Leonardo vom Freistaat fordern. Schließlich bleibe der Bub sein Leben lang behindert. Der Prozess wird am 6. Mai fortgesetzt.

© SZ vom 28.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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