Nach dem Amoklauf von Ansbach:Zuspruch für ein weinendes Mädchen

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"Sie kann nichts für das, was ihr Bruder getan hat": Die Schüler des Gymnasiums kümmern sich um die Schwester des Amokläufers - und verurteilen die Medienjagd.

U. Ritzer

Gleich am nächsten Tag haben sie ihre Klassenkameradin besucht und das war gar nicht so einfach. Sie kamen zu sechst, und an der Haustüre mussten sie sich mit vollen Namen regelrecht identifizieren, um überhaupt hereingelassen zu werden. "Die Familie wollte sichergehen, dass wir es wirklich sind und nicht irgendein RTL- oder Bild-Reporter mit einem Trick versucht, reinzukommen", sagt Pascal Heller, 16.

Andenken an die Opfer des Amoklaufs am Zaun des Gymnasiums Carolinum. Die Schüler des Gymnasiums kümmern sich auch um die Schwester des Amokläufers. (Foto: Foto: ddp)

Eine halbe Stunde sind sie geblieben. Haben dem weinenden Mädchen Mut zugesprochen. Es ist für sie ein Opfer des Amoklaufs am Ansbacher Gymnasium Carolinum vom vergangenen Donnerstag - auch wenn sein Name in keiner Opferliste auftaucht. Sandra (Name geändert) ist die Schwester von Georg R., dem Amokläufer. Sie besucht die elfte Klasse des Carolinums und saß im Biologieunterricht, als ihr Bruder ein Stockwerk höher Molotowcocktails in zwei Klassenzimmer warf, mit der Axt auf fliehende Mitschüler einschlug und schließlich von Polizisten angeschossen wurde.

Pascal Heller, Helene Hellmuth und Rahel Herzog haben lange überlegt, ob sie überhaupt noch mit Journalisten sprechen wollen. Nach allem, was war. Dann aber tun sie es doch. Ein öffentliches Zeichen wollten sie setzen, sagen sie. Ein Zeichen für Sandra und an Sandra, die an der Tat völlig unbeteiligte 16-jährige Schwester von Georg R. "Sie soll wissen, dass sie beruhigt wieder in die Schule kommen kann", sagt ihre Klassenkameradin Helene Hellmuth, 16. "Sie kann nichts für das, was ihr Bruder getan hat, und sie soll wissen, dass wir alle hinter ihr stehen."

Sandra, die sie als lebenslustig beschreiben, als immer gut gelaunt. Mit der sie seit Jahren lernen, musizieren, Theater spielen und Sport treiben. "Wir stehen geschlossen hinter ihr und sind jederzeit für sie da", heißt es in einem offenen Brief, den 30 Schülerinnen und Schüler des Carolinums in der Ansbacher Fränkischen Landeszeitung veröffentlicht haben. "Sobald sie bereit ist, den Schulalltag wieder auf sich zu nehmen, werden wir sie in unserer Mitte wieder herzlich willkommen heißen", ist da zu lesen.

Einer für den anderen da

Fast scheint es, als habe der Amoklauf von Sandras Bruder viele Schüler des Carolinums und ihre Lehrer enger denn je zusammengeschweißt. Es sei wirklich momentan einer für den anderen da, sagen Pascal, Helene und Rahel unisono.

Man gewährt sich gegenseitig Schutz und nimmt aufeinander Rücksicht. Den beiden durch Axthiebe und Brandsätze schwerverletzten Mädchen aus der Klasse 10b haben Mitschüler rührende Briefe geschrieben und ihre Hilfe angeboten. Auch Sandra musste am Morgen des Donnerstags die Schule verlassen. Zunächst im Glauben, es handele sich um einen Feueralarm, womöglich nur einen zur Probe. "Sie und ich haben darüber auf dem Schulhof sogar noch gewitzelt", erzählt Helene Hellmuth. Dann war plötzlich von einem tatsächlichen Brand im Schulhaus die Rede. Schließlich habe jemand gesagt, "dass da einer mit einer Axt rumläuft und Molotowcocktails wirft".

Besorgt habe Sandra daraufhin herumgefragt, ob jemand ihren Bruder Georg gesehen habe. Ob er wohl unversehrt herausgekommen sei? Erst als alle Schüler in der kurzerhand zum Notquartier umfunktionierten, benachbarten Agentur für Arbeit saßen, habe Sandra von einem Polizisten erfahren, dass ihr Bruder der Amokläufer war, erinnert sich Helene Hellmuth.

"Sandra kann das alles immer noch nicht begreifen", sagt Pascal Heller vier Tage später. Sie frage sich, wie es wohl sein werde, wenn sie das erste Mal wieder in die Schule kommen und den dritten Stock betreten wird. Jene Etage, in der ihr Bruder wütete. "Er ist trotz allem ihr Bruder", sagt Heller.

Elternhaus von Kamerateams umstellt

Als die Mitschüler Sandra besuchten, sei deren Elternhaus von Kamerateams umstellt gewesen, schildern sie. "Was von uns Schülern am schlimmsten empfunden wird, ist die Belagerung der Familie durch Medien und die Veröffentlichung eines Bildes seiner völlig unbeteiligten Schwester im Fernsehen", heißt es im offenen Brief.

Die meisten Journalisten, sagen die jungen Leute, würden sich korrekt und seriös verhalten. Manchen scheine aber "jegliches Verantwortungsbewusstsein verloren gegangen zu sein." Die Jagd vornehmlich auf Fotos und Filmaufnahmen der Opfer und des Täters spielte sich nicht nur mit Geldscheinen auf Ansbacher Straßen rund um die Schule ab, sondern bevorzugt im Internet. In bei Jugendlichen beliebten Chatrooms und Foren wanzten sich Boulevardreporter mit falschen Namen und als angeblich gleichaltrige Schülerreporter an Carolinum-Gymnasiasten an, erzählen Helene Hellmuth und Rahel herzog. Aus geschützten Forenbereichen seien Bilder von Sandra und Georg R. herauskopiert und veröffentlicht worden. Pascal Heller stört sich daran, dass auch beim Gedenkgottesdienst gefilmt wurde. "Als danach ein Mädchen vor der Kirche zu weinen begann, stürzten sich mehrere Fotografen auf sie", sagt Pascal Heller.

Das Medieninteresse scheint für viele verlockend. Am Herrieder Tor, dem stark frequentierten Zugang zur Ansbacher Fußgängerzone gleich neben dem Gymnasium Carolinum, gab dieser Tage ein Mädchen einem Privatfernsehteam ein Interview. "Das lief dann den ganzen Tag rauf und runter", schildert Helene Hellmuth. Das Mädchen habe vom Amoklauf erzählt und die Lage am Carolinum ausführlich geschildert. "Dabei geht die nicht einmal auf unsere Schule."

© SZ vom 22.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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