Mögliche Motive für Geiselnahme in Ingolstadt:"Er wollte seine Reputation retten"

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Ein Großaufgebot der Polizei wartete am Montag während der Geiselnahme im Rathaus von Ingolstadt auf ihren Einsatz. (Foto: dpa)

Warum ist der junge Mann zum Geiselnehmer geworden? Und wie lässt sich so eine Tat künftig verhindern? Einen Tag nach dem Geiseldrama in Ingolstadt diskutieren Politiker und Fachleute über Motive und Möglichkeiten. Gegen den Täter wurde nun ein Haftbefehl erlassen, ihm drohen mehrere Jahre Gefängnis.

Von Wolfgang Wittl

Jeden Dienstag bittet die Stadt Ingolstadt zu ihrer wöchentlichen Pressekonferenz, doch so groß wie diesmal war das Interesse wohl noch nie. Zwei Dutzend Journalisten wollten das Neueste über die tags zuvor gewaltsam beendete Geiselnahme erfahren. Stattdessen erhielten sie Informationen über "Offenes Chorsingen im Bauerngerätemuseum" oder "Pfeifturmbegehungen". Zum alles beherrschenden Thema äußerte sich die Stadt nur kurz. Man bitte um Verständnis, dass zur Geiselnahme keine weiteren Auskünfte mehr erteilt würden, sagte der stellvertretende Sprecher Michael Klarner: "Wir versuchen, zur Normalität überzugehen."

Wie schwer das fällt, zeigte sich ein paar Meter weiter am Alten Rathaus, in dem ein Mann drei Geiseln bis zu neun Stunden lang festgehalten hatte. Normal ist das Gebäude für alle Menschen zugänglich. Am Dienstag war es zunächst nur für Trauungen geöffnet. Immer wieder drückten Bürger vergeblich die Klinke der versperrten Eingangstür, während die Polizei im Inneren Spuren sicherte.

Ein Spezialeinsatzkommando hatte den 24 Jahre alten Geiselnehmer am frühen Montagabend mit zwei gezielten Schüssen in Schulter und Bein außer Gefecht gesetzt. Seitdem befindet sich der Mann in einer Klinik, nun wurde gegen ihn Haftbefehl wegen Geiselnahme erlassen. In einem Prozess muss der Mann mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren rechnen.

Vor drei Wochen erst verurteilt

Vor drei Wochen erst war der Mann vom Ingolstädter Landgericht zu einer Strafe von einem Jahr und acht Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Er hatte einer 25-jährigen Bekannten nachgestellt und diese sogar mit dem Tod bedroht. Die Frau, eine Mitarbeiterin der Stadt, befand sich unter den Geiseln. Über ihren Zustand wollte sich die Polizei nicht äußern.

Die Geiseln befänden sich in unterschiedlicher Verfassung, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern Nord. Der Dritte Bürgermeister Sepp Mißlbeck (FW) soll am Dienstag sogar bereits wieder im Büro gewesen sein. Mißlbeck war im Gegensatz zu den beiden anderen Geiseln vorzeitig freigelassen worden. Eine weitere vierte Geisel hatte der Täter sofort gehen lassen.

Über das Motiv des Mannes sagte Mißlbeck am Montag: "Er wollte seine Reputation retten." Offenbar sollte Oberbürgermeister Alfred Lehmann (CSU) einen Brief unterzeichnen, der das Hausverbot betraf, das die Stadt dem 24-Jährigen unlängst wegen der Belästigung der Mitarbeiterin erteilt hatte.

Debatte um schärfere Gesetze

Für Justizministerin Beate Merk ist der Vorfall von Ingolstadt ein weiterer Beleg, dass Stalking härter bestraft werden muss. Auch Innenminister Joachim Herrmann, der den Einsatz am Montag begleitete, teilt diese Auffassung. Schärfere Gesetze, wie sie Erika Schindecker von der Deutschen Stalking-Opferhilfe in der SZ forderte, werden von Fachleuten indes als wenig hilfreich bewertet. "Sie werden auch in Zukunft verwirrte Personen nicht von solchen Taten abhalten", sagt Hans Wengenmeir vom Bund Deutscher Kriminalbeamter in Bayern.

Personenkontrollen wie in Gerichten und an Flughäfen seien in öffentlichen Gebäuden nicht umzusetzen. "Wo fängt man an, wo hört man auf?", sagt ein Polizeibeamter. Auch beim Bayerischen Städtetag und der Gewerkschaft der Polizei sprach man von einem Einzelfall.

Manche Bürger von Ingolstadt fragten sich gleichwohl, wie der Mann trotz Hausverbots unbehelligt in die Amtsräume gelangen konnte. Allerdings hätte wohl auch ein Pförtner, wie es ihn in anderen Rathäusern gibt, die Tat kaum verhindern können. Bei der Touristen-Information im Erdgeschoss des Gebäudes herrscht ein Kommen und Gehen, ein Seiteneingang bei den Toiletten ermöglicht weiteren Zutritt.

"Das Rathaus ist nun mal für die Bürger da", sagte Sprecherin Ingrid Schmutzler. Nachdem die Polizei ihre Untersuchungen abgeschlossen hatte, wurde es am frühen Dienstagnachmittag denn auch wieder für die Allgemeinheit geöffnet.

Der Schock sitzt tief

Der Schock bei den städtischen Mitarbeitern sitzt allerdings weiterhin tief. Von der Belegschaft will sich niemand zu der Geiselnahme äußern. Auch OB Lehmann hielt sich am Dienstag bedeckt. Es sei alles bereits gesagt. "Wir sind sehr froh, dass das gestrige Ereignis ein glückliches Ende gefunden hat", erklärt der städtische Sprecher Klarner. Das müsse bitte reichen.

Die Menschen vor dem Rathaus sehen es ähnlich. Der Vorfall hätte überall stattfinden können und wäre wohl nirgends zu verhindern gewesen, sagen Passanten, während eine Brauerei die Bierbänke abholt, die für die geplatzte Kundgebung mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) vorgesehen waren. Auch die Bühne ist bereits abgebaut. Die Ingolstädter, sie wirken sehr gefasst an diesem Tag nach der Geiselnahme. Nur als plötzlich ein Martinshorn ertönt, schrecken alle auf. Erst als sie sehen, dass ein Feuerwehrwagen um die Ecke biegt, gehen sie weiter.

© SZ vom 21.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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