Geiselnahme im Alten Rathaus:Nervenkrieg in Ingolstadt endet nach neun Stunden

Ausnahmezustand am Rathausplatz: Stundenlang verhandelte die Polizei mit einem Mann, der in Ingolstadt zunächst vier Geiseln genommen hatte. Am frühen Abend schlagen die Einsatzkräfte dann zu - und befreien die zwei verbliebenen Geiseln unversehrt. Der Täter, der bei der Aktion verletzt wurde, hatte es offenbar auf eine Mitarbeiterin abgesehen.

Von Frank Müller und Martin Moser

Gegen 17:45 Uhr geht alles dann sehr schnell. Es fallen Schüsse, nur wenige Augenblicke später kommt die erlösende Nachricht: Die Geiselnahme ist beendet. Die beiden Menschen, die der Täter zuletzt noch in seiner Gewalt hatte, konnten unverletzt befreit werden. Er selbst wurde bei der Aktion laut Einsatzleiter Günther Gietl durch zwei Schüsse im Schulter- und Beinbereich nur leicht verletzt. Der Mann hatte laut Polizei eine täuschend echte Pistolenattrappe und ein größeres Messer dabei.

Das ist das Ende eines dramatischen Tages in Ingolstadt, der eigentlich ganz anders hätte laufen sollen. Am Rande des Rathausplatzes steht noch das Plakat für den Nachmittag: "Angela Merkel, Bundeskanzlerin, Horst Seehofer, Bayerischer Ministerpräsident, sprechen am Montag, 19. August, 17.00 Uhr." Dass aus dem ersten gemeinsamen Wahlkampfauftritt in der heißen Phase, ausgerechnet in Seehofers Heimatstadt, nichts wird, ist an diesem schicksalhaften Montag schon früh klar. Ein bewaffneter Mann hat im Alten Rathaus der Stadt zunächst vier Mitarbeiter als Geiseln genommen.

Der Mann stellt keine konkreten Forderungen

Eine Frau kommt sehr schnell frei, die anderen drei bleiben in der Gewalt des 24-Jährigen, der der Polizei als Stalker bekannt ist: zwei Männer - unter ihnen der Dritte Bürgermeister der Stadt - und eine Frau. Der Mitarbeiterin hatte der Geiselnehmer zuvor lange Zeit nachgestellt. Die Union sagt deshalb die Wahlveranstaltung ab, das Plakat bleibt erst mal stehen. Wie eine Banderole ringelt sich das Ende der rot-weißen Absperrbänder um die Köpfe von Seehofer und Merkel.

Seit dem Morgen herrscht Ausnahmezustand am Ingolstädter Rathausplatz. Schwer bewaffnete Spezialeinsatzkräfte in schwarzen Jacken, nur ein Augenschlitz macht den Blick aufs Geschehen frei. Rettungswagen, Feuerwehrfahrzeuge, Polizeiautos noch und noch. Um die Ecke stehen schwere, gepanzerte Fahrzeuge. Es ist ein stundenlanges Gezerre - auch deswegen, weil der Mann keine konkreten Forderungen stellt. Außer dem Wunsch nach Zigaretten, Tabletten und einem Döner. All das bekommt er auch.

Täter zeigte sich gesprächsbereit

Erst um 14:45 Uhr gibt es Bewegung. Polizeisprecher Hans-Peter Kammerer bestätigt erleichtert, dass eine der drei Geiseln frei ist. Es ist der Dritte Bürgermeister Sepp Mißlbeck von den Freien Wählern. Der 69 Jahre alte Kommunalpolitiker wird zunächst von den Ermittlern vernommen. "Eine ganz leichte Entspannung" sei eingetreten, sagt Kammerer, ein Erfolg des Verhandlungsteams. "Rein körperlich geht's dem Bürgermeister gut", sagt Polizeisprecher Hans-Peter Kammerer. "Selbstverständlich ist er beeindruckt von dem, was er am Vormittag erdulden musste."

Dabei hatte sich Mißlbeck laut den Ermittlern eigentlich darauf eingestellt, das Zimmer nur kurz zu verlassen. Er wollte dem Geiselnehmer ein Entschuldigungsschreiben der Stadt bringen, offenbar für eine Lappalie. Als er damit zurückkommt, will der Geiselnehmer ihn gar nicht mehr hineinlassen. Damit sind es nur noch zwei Geiseln. Genau diese Situation habe die Polizei dann in Alarmstimmung versetzt, sagt Innenminister Joachim Herrmann (CSU) nach dem Ende des Dramas. Sie hatten den Verdacht, der Mann könne es darauf anlegen am Ende mit der Frau alleine im Zimmer zu sein - mit unabsehbaren Folgen.

Der Täter stehe "erheblich unter psychischem Druck"

Die Einsatzkräfte beraten sich, auch mit den Psychologen, die mit dem Fall betraut waren. Dann bereiten sie den Zugriff vor, eine Stunde danach stürmt das Spezialeinsatzkommando das Dienstzimmer. Offenbar hatten Scharfschützen vom Gebäude gegenüber mit ihren Zielfernrohren die Situation in dem Zimmer einsehen können. Das habe bei der Wahl des richtigen Zeitpunkts geholfen. Als glücklicher Umstand erweist sich auch der Schauplatz Rathaus. Viele Menschen hätten den Polizeikräften jede Einzelheit der Örtlichkeiten genau beschreiben können.

Schon zuvor haben sie zum Täter regelmäßigen Kontakt, er zeigt sich offenbar gesprächsbereit. Doch die Polizei zeigt sich stundenlang äußerst bemüht darum, keine Details über den Mann zu verraten. Der Grund ist klar: Über Fernsehbilder, Onlineticker und Internetseiten kann, wer will, das Geschehen quasi live verfolgen - womöglich auch der Täter. Der stehe "erheblich unter psychischem Druck", sagt Polizeisprecher Kammerer. Nun soll alles vermieden werden, was ihn unberechenbarer machen könnte, etwa dadurch, dass Details über sein Vorleben live zu verfolgen sind. "Jede Information über ihn selber, die der Täter mitbekommt, kann schädlich sein", sagt Kammerer.

Am Ende gibt sich Herrmann, der den ganzen Tag in Ingolstadt verbracht hat "erleichtert und sehr froh". Rathäuser sollten auch künftig kein Hochsicherheitstrakt werden, kündigt der Minister noch an. Denn das wäre mit dem, was die Menschen unter bürgernaher Verwaltung verstehen, nicht vereinbar.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: