Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs :Der Untergang des alten Nürnbergs

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Am 2. Januar 1945 bombardierten alliierte Luftkampfkräfte die ehemals Freie Reichsstadt, die Adolf Hitler dazu auserkoren hatte, Geschichte zu machen. Zwei Zeitzeugen erinnern sich aus Anlass des 70. Jahrestages

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Albrecht Sondermann war elf, als das alte Nürnberg vernichtet wurde. Sondermann selbst hat das nicht erleben müssen, seine Eltern hatten ihn nach Nördlingen zu Verwandten geschickt, als es in Nürnberg zu heikel wurde. Nicht, dass Nördlingen sicher gewesen wäre, wo war man schon sicher in dieser Zeit. Aber Nürnberg, die Stadt, die Adolf Hitler auserkoren hatte, Geschichte zu machen. Wo er sich zum Nachfolger deutscher Imperatoren stilisiert hatte. Wo er die Reden an die eigene Partei hielt. Und die Olympischen Spiele auf Dauer hätten stattfinden sollen nach dem Willen des "Führers". Nürnberg war schon gar nicht sicher, das wussten die Sondermanns. Sie sollten recht bekommen.

Am 2. Januar 1945 schlug die letzte Stunde der ehemals freien Reichsstadt. Einer Stadt, die einmal als die "deutscheste aller deutschen Städte" gegolten hatte.

Im Sommer 1945, sechs Monate nach dem Inferno, wollten die Verwandten den Elfjährigen nicht nach Hause lassen. Und natürlich hatten sie recht damit. Nicht nur, dass Sondermann noch ein Kind war. Es gab auch keine Infrastruktur mehr, derer man sich hätte bedienen können. Der Elfjährige, so hat er das in Erinnerung, bestieg also kurzerhand einen Laster, von dem er wusste, dass der Gemüse nach Nürnberg bringen sollte. Beziehungsweise in die Stadt, die einmal Nürnberg war.

Die Nürnberger Innenstadt nach dem Luftangriff. In der Mitte die zerstörte Fleischbrücke. (Foto: SZ-Archiv)

Irgendwo im Süden seiner Heimatstadt, da wo einmal das industrielle Herz nicht nur Bayerns geschlagen hatte, muss der Fahrer den Bub rausgelassen haben. Jedenfalls weiß Sondermann noch, wie er die Königstraße entlangging. Die führt vom Hauptbahnhof zum Hauptmarkt, eine breite Magistrale heute wie in der Zeit vor dem Januar 1945. Aber als der Elfjährige dort durchzukommen versuchte, war die Königstraße eine Gasse, links und rechts begrenzt von Schutt. Sondermann kann sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, das Gedächtnis ist da gnädig. Aber er weiß noch, dass er einen Koffer in der Hand hielt, den er eigentlich gar nicht tragen konnte. Er hatte ja gehört, dass es in Nürnberg an allem mangelte und hatte entsprechend eingepackt für die Gemüselasterfahrt. Und Sondermann weiß noch, wie er sich irgendwo in der Altstadt - in der Nähe der Lorenzkirche, vielmehr der ehemaligen Lorenzkirche muss es wohl gewesen sein - auf einen Stein hockte und das erste mal an diesem Tag zum Nachdenken kam.

Was er dachte? "Lieber Gott, ich kann nicht mehr", sagt Sondermann.

Es tippelte dann doch noch den Egidienberg hoch, am Nordring hinter der Altstadt lebten in einem Sammelquartier auch die, die einmal im Zentrum gelebt hatten. Dort fand er seine Schwester. Damit, sagt Sondermann, habe das Leben wieder begonnen. "Aber schön war es nicht."

Man hätte die Geschichte des 2. Januar 1945 in Nürnberg auch mit dem Mann beginnen können, mit dem sie in den Köpfen der Zeitzeugen wohl auf Gedeih und Verderb verbunden sein wird. Der Mann heißt Arthur Schöddert, man nannte ihn den "Onkel Baldrian". Schöddert selbst war gar kein Nürnberger, er redete das Idiom eines Mannes aus Münster in Westfalen. Was die Nürnberger nicht hinderte, ihm wegen seiner sedierenden Art zu sprechen, einen Kosenamen zu widmen. Schöddert, der Mann mit dem Baldrian in den Stimmbändern, war dazu erkoren, den Nürnbergern die Luftlagemeldungen aus dem Gefechtsstand der Flak-Gruppe zu verlesen. Und er tat dies auch am 2. Januar 1945.

Ein britischer Bomber beim Abwurf von Stabbrandbomben über Nürnberg. (Foto: SZ-Archiv)

Von dem Tag berichtet eine Zeitzeugin, Onkel Baldrian habe abends starke Kampfverbände im Anflug auf das Stadtgebiet gemeldet, sie habe den schützenden Bunker noch rechtzeitig erreichen können. Dann notiert sie in ihrem Bericht: "Wie ich erst viel später erfuhr, hatte Schöddert nach Meinung seiner Vorgesetzten zu früh Alarm gegeben. Wie sich allerdings herausstellte, wurde durch seine scheinbare Fehlentscheidung vielen Menschen das Leben gerettet." Historisch belegen lässt sich das kaum, Schöddert selbst gab später an, um 18.54 Uhr den Vollalarm ausgelöst zu haben, während nach der Abschlussmeldung des Polizeipräsidenten von Nürnberg der Fliegeralarm schon um 18.43 Uhr ausgelöst wurde. Mag also sein, dass es eine Legende ist, die man Onkel Baldrian nach dem Krieg nur allzu gerne unterschob. Und vielleicht einfach deshalb, weil zu der Zeit kaum andere Menschen in der Stadt lebten, die jeder kannte und die man hätte zu Helden ihrer Tage aufbauen können.

Das ist die Crux für die Geschichtsschreibung dieses schwersten Tages in der Historie der Stadt: Die wenigen Dokumente, die es überhaupt gab, fielen zum großen Teil dem Luftkrieg zum Opfer. Und nicht nur jenem Angriff vom 2. Januar 1945, dem Tag, an dem "des Deutschen Reiches Schatzkästlein" zu Schutt wurde. Sondern vor allem auch dem Doppelangriff im Februar desselben Jahres. Am 20. und 21. Februar starben in Nürnberg ebenfalls mehr als tausend Menschen, im Vormonat dürften es 1800 gewesen sein. Aber es ist eben der 2. Januar, der sich als Schicksalstag ins kollektive Gedächtnis der Stadt eingebrannt hat. Weil an diesem Tag die bedeutendste Altstadt des mittelalterlichen Heiligen Reichs zertrümmert wurde. Und weil es ein Angriff über Nacht war. Dies, so hat es der Historiker Gerhard Jochem immer wieder von Zeitzeugen gehört, war deswegen wohl das deutlich schwerere Trauma.

Jochem hat vor zehn Jahren das aufwendigste Projekt in der Geschichte des Stadtarchivs Nürnberg geleitet. Das Archiv hatte Zeitzeugen aufgefordert, ihre Dokumente zur Verfügung zu stellen, mit überwältigend Erfolg: 430 Überlebende meldeten sich, mit ihrer Hilfe entstand der Band "Der Luftkrieg gegen Nürnberg", ein bahnbrechendes Werk in der Historiografie dieser Stadt. Zwar gibt es ein ähnliches Projekt zum 70. Gedenktag der Katastrophe nicht. Aber auch diesmal gelingt es, dem Puzzle der Erinnerung neue Teile hinzuzufügen. Etwa im Heimatministerium, gleich gegenüber der Lorenzkirche, wo man die Vernichtung der Stadt auf der Grundlage des Bayerischen Luftbildarchivs nachempfinden kann. Die Aufnahmen stammen zum Teil von britischen Soldaten, die ihre Bilder während des Angriffs auf Nürnberg gemacht haben. Einer berichtet, wie er sich im Angesicht der "schneebedeckten, mittelalterlichen Gebäude an eine Weihnachtskarte erinnert" gesehen habe.

Die Ausstellung vergisst auch die anderen Daten der Stadtzerstörung nicht, Daten, derer üblicherweise nicht gedacht wird: Die Luftangriffe 1941 und 1942, mit Treffern auf Dürer-Haus und Kaiserburg. Der verheerende Angriff 1943 mit der Vernichtung des Stadtteils Wörth und großen Teilen der Südstadt. Und die Luftangriffe im September und November 1944 mit Treffern auf Rathaus, Sebalduskirche und das historische Bratwurstglöcklein.

Alle diese Angriffe hat Ursula Kraft in der Stadt erleben müssen. Am Tag aber vor dem schlimmsten Schlag, jenem 2. Januar, wurde Kraft, sie war schwanger zu der Zeit, in ein Dorf 25 Kilometer östlich von Nürnberg gebracht. Bis dorthin sah sie Nürnberg brennen, verbrennen. Auch ihr Haus fiel dem Angriff zum Opfer. Nur noch Teile ihrer Kleidung fand sie später im benachbarten Stadtpark, sie hingen dort auf den Bäumen. "Es war fürchterlich", sagt die 94-Jährige. Ihre Tochter brachte sie drei Monate später im Städtchen Hersbruck zur Welt. Während eines Luftangriffs.

Was ist dieser 2. Januar 1945 für Nürnberg? Albrecht Sondermann ist Pfarrer geworden wie schon sein Vater. Er hört etwas schwer, aber die Antwort auf diese Frage kommt so prompt, als wären seither sieben Wochen vergangen. "Wir wissen hier, was Krieg bedeutet", sagt er. Und: "Die alte Stadt, sie ist weg." Sondermann hat sie geliebt. Und er versteht, wenn gelegentlich jemand nach Nürnberg kommt und sich öffentlich darüber Gedanken macht, dass es dort an einigen Stellen "grau und traurig" aussehe, sagt er. Empfinde er zwar nicht so, akzeptiere er aber als Haltung.

Was diese Leute aus eigener Anschauung aber nicht wüssten: "Wir konnten hier mal mit Venedig mithalten." Sondermann hat noch den Satz seiner Mutter im Ohr, mit dem sie so ziemlich jeden Gast konfrontierte: "Höfe müssen Sie sich anschauen, die Höfe dieser Stadt." Dort zeigte sich der Bürgerstolz Nürnbergs, sagt Sondermann, "einer reichen, einer strahlenden Stadt".

Alles weg. Am Egidienberg, wo Sondermann im August 1945 hochtippelte mit Koffer in der Hand, wird seit einigen Jahren das Pellerhaus rekonstruiert. Für Sondermann ist das sehr rührend. Bis zum Winter 1945 hatte das Renaissance-Haus mit seinen Hofgalerien als ein Stück Architektur von Weltrang gegolten. Als ein typisches Nürnberger Haus: Ein stolzer Bürger hatte es für den Schwiegersohn errichten lassen.

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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