Justizversagen im Fall Mollath:Wenn die Fehler zum Himmel schreien

Gustl Mollath

Gustl Mollath, hier bei seiner Anhörung am Landgericht Bayreuth im April 2013

(Foto: dpa)

Geht ein Notruf ein, müssen Feuerwehr und Krankenwagen innerhalb weniger Minuten zu Hilfe kommen. Der Antrag auf Wiederaufnahme im Prozess von Gustl Mollath ist ebenfalls eine Art Notruf, vor 15 Wochen ist er bei Gericht eingegangen. Dass bisher nichts geschehen ist, ist schwer begreiflich.

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Jeder weiß, was ein Notruf ist. Die Ziffernkombination 110 oder 112 alarmiert Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei. Die Qualität eines Rettungssystems bemisst sich nach der Zeit, die zwischen dem Alarm und dem Beginn effektiver Hilfe vergeht. Man nennt diese Zeit "Hilfsfrist". In Deutschland sind die Vorgaben für die Frist in 16 unterschiedlichen Rettungsdienstgesetzen geregelt. Sie reicht von acht Minuten in den dicht besiedelten Gebieten Nordrhein-Westfalens bis zu 17 in ländlichen Gebieten Thüringens.

Eine Notrufnummer für die Justiz gibt es nicht. Die Justiz lässt sich auch nicht so leicht alarmieren. Es gibt aber Ereignisse, die wie Notrufe sind: Im Fall Mollath ist dieser Notruf vor vielen Wochen bei Gericht eingegangen. Die Verteidigung hat am 19. Februar, die Staatsanwaltschaft am 18. März einen Antrag auf Wiederaufnahme dieses Verfahrens gestellt. Der gesamte Prozess soll zu Gunsten von Gustl Mollath neu aufgerollt werden. Das Urteil, das den Mann in die Psychiatrie geschickt hat, stütze sich auf eine gefälschte Urkunde und auf falsche Zeugenaussagen, es basiere auf haarsträubenden Fehlern. Die Kombination der Anträge von Anklage und Verteidigung hätte einen Justizalarm auslösen müssen. Passiert ist aber bisher nichts. Eine Entscheidung ist nicht getroffen. Das ist alarmierend.

Spätestens seit dem 18. März läuft die Hilfsfrist. Aber die Justiz in Gestalt der 7. Strafkammer am Landgericht Regensburg, ist (um im Sprachgebrauch der Rettungsdienste zu blieben) noch nicht einmal ausgerückt. Soeben hat sie es abgelehnt, die Strafvollstreckung gegen Mollath zu unterbrechen, ihn also wenigstens vorübergehend aus der Psychiatrie zu entlassen. Begründung: Wegen der "Komplexität" der Angelegenheit sehe man sich zu einer "hinreichend konkreten Einschätzung" noch nicht in der Lage. Komplex? Da ist man als Beobachter erst einmal perplex. Und dann fragt man sich, wie es diese Richter mit dem "Lex", also dem Gesetz halten. Recht, Gesetz und Verfassungsgericht verbieten jede Saumseligkeit, wenn es um Freiheitsentzug geht. Im Fall Mollath geht es nicht darum, ob ein Goldbarren zu Unrecht beschlagnahmt bei den Asservaten liegt. Es geht darum, dass ein Mensch seit sieben Jahren womöglich zu Unrecht in der Psychiatrie sitzt.

In Regensburg ruhen sich Richter auf den bisherigen Verfahrensfehlern aus. Das ist schwer erträglich. Die Justiz, die im Fall Mollath so viel geschlampt hat, hat Pflichten aus vorangegangenem üblen Tun: Die erste Pflicht besteht darin, rasch über die Wiederaufnahme zu entscheiden. Und die einstweilige Unterbrechung der Psychiatrie-Haft während der einschlägigen Prüfung wäre eine kleine Entschuldigung.

Gewiss: Das Gesetz hat die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme mit gutem Grund sehr hoch gesetzt. Es sollen rechtskräftig abgeschlossene Verfahren nicht aufgrund von allgemeiner Unzufriedenheit wieder von vorn beginnen müssen - sondern nur dann, wenn die Fehler zum Himmel schreien, wenn neue Beweismittel aufgetaucht sind. Meist ist es so, dass nur der Verteidiger des Verurteilten das behauptet. Es kommt äußerst selten vor, dass das sowohl die Verteidigung als auch die Anklagebehörde behaupten - wie bei Mollath. Umso ernster muss ein Gericht die beantragte Wiederaufnahme nehmen.

Die Verteidigung hat dem Gericht vor 15 Wochen auf 140 Seiten, die Staatsanwaltschaft vor elf Wochen 152 Seiten lang dargelegt, warum Mollaths Verurteilung nicht haltbar ist. Ein Gericht muss in der Zeit in der Lage sein, zumindest eine Ahnung davon zu gewinnen, ob und wie schief das Verfahren bisher gelaufen ist. Das nennt man Komplexitätsreduktion. Richtern, die das nicht schaffen, kann man existenzielle Entscheidungen nicht anvertrauen.

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