Grundschule in Neu-Ulm:In der Gewinnklasse

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Von 7.30 bis 16 Uhr sind die Kinder in der Grundschule Neu-Ulm Stadtmitte betreut. Unterricht und Freizeit sind über den Tag verteilt, die Lehrer haben genug Zeit, auf unterschiedliche Leistungen einzugehen. Perfekt für die Schüler - aber die Pädagogen machen unbezahlte Überstunden.

Von Tina Baier

Serhat ist schlau und schnell. Aber auch zappelig. Er sitzt allein an einem Tisch im Gang. "Hier kann ich mich am besten konzentrieren", sagt er. Dann fängt er mit dem dritten Arbeitsblatt an, die meisten seiner Klassenkameraden sind noch mit dem ersten beschäftigt. Drinnen im Klassenzimmer hat sich Jakub eine ruhige Ecke gesucht. Der Bub ist erst seit diesem Sommer in Deutschland. Gerade lernt er, wie verschiedene Obst- und Gemüsesorten heißen und wie man sie schreibt. Apfel, Tomate und Salat kennt er schon, bei Gurke und Melone hat er noch Schwierigkeiten.

30 Meter weiter sitzen Leonesse, Selina und Ceren in einem gemütlich eingerichteten Raum und arbeiten konzentriert. Leonesse und Selina lösen Matheaufgaben, Ceren unterstreicht in ihrem Deutschheft "Mitsprechwörter", also Wörter, die man genauso schreibt, wie man sie spricht. Obwohl die fünf Kinder unterschiedliche Dinge machen und nicht einmal im selben Raum sitzen, gehören sie alle zu einer Klasse: der 3a der Ganztagsgrundschule in Neu-Ulm Stadtmitte.

"Jeden Tag von acht Uhr bis viertel nach neun arbeiten die Kinder selbständig an ihrem Wochenplan", sagt Stephanie Brünig, die Konrektorin der Schule. Jedes Kind bekommt am Montag eine Liste mit Aufgaben, die bis Freitag erledigt sein müssen. Welche Aufgabe die Kinder wann lösen, ob sie lieber mit Mathe anfangen oder mit Deutsch, dürfen sie selbst entscheiden - und sogar wo sie dabei sitzen möchten.

89 Prozent der Kinder haben einen Migrationshintergrund

Die Grundschule in Neu-Ulm ist eine von 365 in Bayern, in denen es sogenannte gebundene Ganztagsklassen gibt. Montags bis donnerstags sind die Kinder von halb acht bis 16 Uhr in der Schule, freitags bis viertel vor eins. Weil Lehrer und Schüler mehr Zeit miteinander verbringen als in einer Halbtagsschule, können die Lehrer besser auf die sehr unterschiedlichen Leistungsniveaus ihrer Schüler eingehen. "Außerdem lernt man die Kinder viel besser kennen", sagt Nadine Schmid, die Klassenleiterin der 3a. "Die Kinder kommen sehr gern hierher. Viele wollen am Ende des Jahres gar nicht in die Ferien."

Der Schultag der 3a ist rhythmisiert, das heißt, Lern- und Erholungsphasen wechseln sich den ganzen Tag über ab. Hausaufgaben gibt es keine, das Üben wird in den Schultag integriert. Bildungsforscher sind überzeugt, dass gebundene Ganztagsschulen das Schulsystem gerechter machen. Ein Grund dafür ist, dass Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern besser gefördert werden können, zum Beispiel durch Sprachkurse für Schüler, die schlecht Deutsch sprechen.

Die Schule in Neu-Ulm ist eine Brennpunktschule. 89 Prozent der Kinder haben Migrationshintergrund. Viele kommen aus schwierigen Elternhäusern. Wer das Schulhaus betreten will, muss klingeln. Im Lehrerzimmer hängen Fotos von Buben und Mädchen neben den Fotos der Personen, von denen sie auf keinen Fall abgeholt werden dürfen - damit alle Lehrer wissen, auf welche Kinder sie besonders aufpassen müssen. Viele der Schülerinnen und Schüler sprechen schlecht Deutsch, mehrere können zwar flüssig vorlesen, verstehen aber überhaupt nicht den Sinn des Textes. Im Büro von Stephanie Brünig hängt ein Plakat, das ausdrückt, wo die Lehrer in Neu-Ulm mit den Kindern hin wollen: "Lesen hilft. Zuhören bringt's. Denken ist super."

Die Kinder der 3a werden nach der ersten Stunde, in der sie frei gearbeitet haben, in verschiedene Gruppen eingeteilt: Jakub, Roxy und zwei andere konjugieren mit Förderlehrerin Nalan Hörmet deutsche Verben: "du gehet" hat Roxy in ihr Heft geschrieben "er gehent". Hörmet erklärt geduldig, wie es richtig heißen muss, dann machen sich alle daran, das Verb "trinken" zu beugen. Stephanie Brünig liest derweil mit 14 Kindern einen anspruchsvollen Text, in dem es um einen "Diebstahl in der Felsenkirche von Helsinki" geht. Es kommen Worte wie "präsentieren" und "Ikone" vor und die Kinder müssen sehr genau lesen, um herauszufinden, wer den Diebstahl begangen hat.

Im Vergleich zu anderen Bundesländern hinkt Bayern beim Ausbau von Ganztagsschulen wie der in Neu-Ulm weit hinterher. Zu diesem Ergebnis kommt das neueste Gutachten des Aktionsrats Bildung, ein Expertengremium, das von der bayerischen Wirtschaft gefördert wird. Im Freistaat besuchten vergangenes Jahr nur etwa 59.000 von insgesamt 1,3 Millionen Schülern an allgemeinbildenden Schulen eine gebundene Ganztagsklasse. Doch diese Zahl nennt Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) nicht gern. Er spricht lieber von der Zahl der "Schulen mit Ganztagsangebot". Die liege bei mehr als 80 Prozent.

"Mit solchen Zahlen machen sich die Kultusminister etwas vor", sagt Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund und Mitglied des Aktionsrats. Spaenle kommt auf diese hohe Zahl nur, weil er erstens auch solche Schulen als Ganztagsschulen bezeichnet, in denen einige wenige Kinder bis 16 Uhr betreut werden, das Gros der Schüler aber mittags nach Hause geht. Zweitens werden in der Statistik des Kultusministeriums auch sämtliche Schulen als "Ganztagsschulen" geführt, an denen Eltern eine Mittagsbetreuung organisiert haben, die oft nur bis 14 Uhr geöffnet hat und in der weder ein warmes Mittagessen noch die Betreuung der Hausaufgaben vorgeschrieben ist.

Das Kollegium macht Überstunden - aus Überzeugung

Beides ist in einer gebundenen Ganztagsschule selbstverständlich. In Neu-Ulm gibt es an diesem Tag Tortellini mit Käse-Sahnesoße und Salat. Serhat, Jakub, Leonesse, Selina und Ceren stellen sich an der Essensausgabe an und lassen sich ihre Teller füllen. Stephanie Brünig teilt Salat aus, wischt Tische ab und achtet darauf, dass der Geräuschpegel nicht zu hoch wird.

Als sie sich hinsetzt, um selbst kurz etwas zu essen, kommt ein Kind nach dem anderen vorbei: Ein schüchternes Mädchen flüstert ihr ins Ohr, dass es keine Tortellini mag. Brünig geht in die Küche, um ihr noch eine Portion Salat zu holen. Ein Junge, der seinen Pullover verkehrt herum anhat, will wissen, ob er jetzt endlich die Tische abräumen darf, und Serhat erzählt, wie viele Arbeitsblätter er heute geschafft hat. "Im Ganztag entsteht ein sehr vertrautes, familiäres Verhältnis zu den Kindern", sagt Brünig.

Nach dem Essen gehen alle in den Pausenhof. Die Kinder holen Fußballtore, einen Kicker und andere Spielgeräte aus einer Garage und Brünig kommt das erste Mal an diesem Tag kurz zum Durchschnaufen. Am Nachmittag geht es dann mit verschiedenen Arbeitsgemeinschaften weiter.

"Unser erfolgreiches Konzept funktioniert nur, weil das Kollegium aus Überzeugung unbezahlte Überstunden macht", hatte Beate Altmann, die Rektorin der Schule, einige Tage zuvor gesagt. Die zwölf zusätzlichen Lehrerstunden, die der Freistaat den Ganztagsklassen pro Woche zugesteht, reichten nicht. "Wir bräuchten eigentlich 15 bis 20 Zusatzstunden."

Kultusminister Spaenle betont zwar immer wieder, Bayern liege mit der finanziellen Ausstattung von Ganztagsschulen bundesweit an der Spitze. Trotzdem sind nach Ansicht von Thomas Gehring, Bildungssprecher der Grünen, die schlechten Rahmenbedingungen des Freistaats der Hauptgrund dafür, dass es nur wenige Schulen wie die in Neu-Ulm gibt.

© SZ vom 02.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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