Augsburg:Entschärft

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Eine tonnenschwere Fliegerbombe zwingt 54000 Augsburger, am Ersten Weihnachtstag ihre Wohnungen zu räumen. Es ist größte Evakuierung der deutschen Nachkriegsgeschichte - und eine enorme logistische Herausforderung

Von Christian Endt, Augsburg

Familie Wöhrl ist zweimal vor derselben Bombe geflohen. Dazwischen liegen fast 73 Jahre. Wenige Tage vor der Augsburger Bombennacht auf den 26. Februar 1944 stieg Ilse Wöhrl, damals 14 Jahre alt, in einen Zug, der sie ins sichere Allgäu brachte. In jener Nacht muss Historikern zufolge die Fliegerbombe vom Typ HC 4000 in der Jakobervorstadt gelandet sein, die nun auf einer Baustelle entdeckt wurde. Damals wie heute wohnten die Wöhrls an der Argonstraße, nur wenige Meter vom Fundort entfernt. Auch wenn das ursprüngliche Haus der Familie den Krieg nicht überstand. "Das ist sehr unangenehm für mich", sagt Ilse Wöhrl. Wie sie werden viele ältere Augsburger durch den Bombenfund an die Erfahrungen aus dem Krieg erinnert. Die heute 86-Jährige hatte heuer zwar ohnehin vor, Weihnachten außerhalb der Stadt zu verbringen. Aber Sohn Thomas hatte mit Frau und fünf Kindern ein großes Fest an der Argonstraße geplant. Dann kam der amtliche Räumbefehl. Die Wöhrls müssen in die Wohnung eines Neffen ausweichen. Immerhin können sie kurzfristig eine Weihnachtsgans auftreiben: von einem Hotel, das ebenfalls geräumt wird und daher das Festtagsessen absagen muss.

54 000 Augsburger betrifft die größte Evakuierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. In den Tagen zuvor redet die Stadt über nichts anderes als die Entschärfung der Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg mit eineinhalb Tonnen TNT. Die weltberühmte Fuggerei muss ebenso evakuiert werden wie ein Krankenhaus und mehrere Altenheime. Die Stadtwerke fahren ein Heizkraftwerk herunter. Im Dom fällt der Weihnachtsgottesdienst aus.

Die allermeisten der betroffenen Augsburger packen am Morgen des 25. Dezember rechtzeitig ihre Sachen, fahren zu Verwandten oder Freunden außerhalb der Schutzzone oder planen einen Spontanurlaub. Sorge bereiten den Verantwortlichen vor allem Alte und Kranke, die das Sperrgebiet nicht selbständig verlassen können. Schon am Vortag haben Sanitäter die Patienten aus dem Krankenhaus Vincentinum geholt. Für den Tag der Entschärfung haben sich bei den Hilfsorganisationen 900 Freiwillige aus ganz Bayern gemeldet, trotz Weihnachten. Der Dienst beginnt um sechs Uhr morgens. Viele sind mitten in der Nacht daheim aufgebrochen.

Mehr als hundert weiß-rote Transporter sammeln sich allein auf dem Plärrergelände, wo bald wieder die Bierzelte des Volksfests stehen werden. Verkompliziert wird der Einsatz, weil auch die Einsatzzentralen von Feuerwehr und Rotem Kreuz in der Sperrzone liegen. Der Krisenstab muss improvisieren. Ein Teil des Einsatzes wird von der Leitstelle in München gesteuert, ein anderer vom Stützpunkt der Johanniter am Stadtrand. Ein paar wenige harren in der evakuierten Feuerwache aus. Es gibt kein zentrales Lagezentrum, an dem alle Verantwortlichen beisammensitzen. Eine einmalige logistische Herausforderung.

Tage vorher begannen die Behörden, die Menschen in den betroffenen Stadtteilen zu informieren. Über Radio, Presse, Internet und mit Zetteln in jedem Briefkasten. Trotzdem gibt es Augsburger, die bis zum Schluss nichts mitbekommen. Zum Beispiel Mario. Gegen acht Uhr am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags legt sich der 42-Jährige schlafen, als er von draußen eine Lautsprecherdurchsage hört: "Achtung, Achtung, hier spricht die Feuerwehr. Auf amtliche Weisung wird dieses Gebiet aus Sicherheitsgründen geräumt. Bitte verlassen Sie unverzüglich den festgelegten Sperrbereich."

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(Foto: Stefan Puchner/dpa/AFP)

Gefahr gebannt: Drei Zünder müssen die Sprengmeister aus der Weltkriegsbombe herausdrehen, dann ist die Massenevakuierung Augsburgs beendet.

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(Foto: Tobias Hase/dpa)

Als die Sprengmeister an die Arbeit gehen, ist die Augsburger Innenstadt menschenleer.

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(Foto: Tobias Hase/dpa)

54000 Augsburger müssen am ersten Weihnachtsfeiertag ihre Wohnungen verlassen. Einige von ihnen kommen im VIP-Bereich der Fußballarena unter.

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(Foto: Tobias Hase/dpa/AFP)

Die Sperrzone erstreckt sich über einen Radius von 1500 Metern um den Fundort der Bombe herum.

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(Foto: Tobias Hase/dpa/AFP)

Viele von der Räumung betroffene Einwohner feiern Weihnachten einfach auswärts. Probleme bereiten den Einsatzkräften die Alten und Kranken.

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(Foto: Stefan Puchner/dpa/AFP)

900 Helfer sind freiwillig bei der Bombenentschärfung im Einsatz - viele von ihnen kommen von außerhalb.

Mario arbeitet im Amazon-Lager südlich der Stadt, im Advent herrscht dort Hochbetrieb. Die Tage vor Weihnachten hat er frei, geht kaum aus dem Haus, spielt nächtelang auf der Playstation, "Grand Theft Auto V". Vom Bombenfund erfährt erst jetzt. Obwohl er keine hundert Meter von der Fundstelle entfernt wohnt.

Mario zieht sich eine Jacke an und steigt in die Straßenbahn, fährt den Berg hoch in die Innenstadt, weiter mit dem Bus zur Fußballarena. Im VIP-Bereich hat die Stadtverwaltung eine Notunterkunft eingerichtet. Wo bei Heimspielen des FC Augsburg das Buffet für die zahlungskräftigen Besucher wartet, gibt es heute Gulasch und Gemüseeintopf aus Plastiktellern. Aus den Lautsprechern dröhnt "Merry Christmas Everyone". Viele sind nicht ins Stadion gekommen, insgesamt versammeln sich in allen sechs Notquartieren nur ein paar hundert Menschen. Im Stadion spielen manche ein Brettspiel, andere lesen, die meisten sitzen einfach da.

Gegen Mittag sagt Oberbürgermeister Kurt Gribl, die gesamte Evakuierung laufe "ruhig, geordnet und plangemäß". Ähnlich äußern sich Sprecher von Polizei, Feuerwehr und Hilfsorganisationen: Es gebe keinerlei Zwischenfälle, man sei im Zeitplan. Bei den Einsatzkräften auf den Straßen hört sich das ein bisschen anders an. Sie erzählen von Bettlägerigen, bei denen die Feuerwehr kurzerhand die Wohnung öffnen musste. Von Sanitätern, die von außerhalb angereist sind und sich in den verwinkelten Gassen der Altstadt verirren. Von Rettungsteams, die stundenlang auf einen Einsatzbefehl warten, weil die Funker nicht hinterherkommen.

Nur vier Tagen Vorlauf hatte es gegeben, um die Aktion zu planen. Angesichts dieser Umstände läuft die Räumung bemerkenswert reibungsarm. Bis zehn Uhr ziehen noch vereinzelte Menschen ihre Rollkoffer zur Straßenbahn, andere packen Salatschüsseln und Decken ins Auto. Gegen elf Uhr ist die Innenstadt nahezu menschenleer. Gruppen von Feuerwehrleuten marschieren mit ihren schweren Stiefeln über den Bürgersteig. Eine Plastiktüte weht über das Kopfsteinpflaster.

Um 15.08 Uhr verkündet der OB, die Evakuierung sei abgeschlossen. Jetzt beginnen die Sprengmeister mit der Entschärfung. Drei Zünder müssen sie herausdrehen. Schon vorher haben die Fachleute die verrosteten Gewinde mit einem Spezialöl behandelt. 54 000 Augsburger können jetzt erst mal nur warten.

Dreieinhalb Stunden später tritt Gribl im Lagezentrum vor die Kameras, zum ersten Mal seit Tagen mit einem Lächeln. Die Sprengmeister haben die Bombe erfolgreich entschärft. Die Gefahr ist vorüber, die Evakuierung aufgehoben. Augsburg atmet auf. Für die Helfer geht der Einsatz damit freilich noch nicht zu Ende. 560 Hilfsbedürftige wollen wieder zurück nach Hause. Viele Ehrenamtliche arbeiten bis in die Morgenstunden weiter. Die letzten Rücktransporte dauern bis zum Mittag des Zweiten Weihnachtsfeiertages.

© SZ vom 27.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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