Mobilität von morgen:Die lebendige Stadt

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Fahrrad gegen Auto? Das gibt's im Französischen Viertel in Tübingen nicht. Denn Autos sind keine da. Auch keine Zäune und keine Privatgaragen, dafür offene Räume, offene Plätze und offene Menschen - hier wird eine Idee zur Realität.

Judith Liere

Da liegt es also. Bullerbü. Fröhliche Kinder hüpfen durch Gärten, Nachbarn stehen auf der Straße und plaudern, der Bioladen verkauft Gemüse, an dem noch Erde klebt, im kleinen Café an der Ecke sitzen zwei Männer in sich versunken vor einem Schachbrett. Dörfliche Idylle pur.

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Allerdings ist das hier kein Dorf, sondern Tübingen. Zur Großstadt fehlen mit knapp 90.000 Einwohnern zwar noch ein paar Menschen, aber immerhin darf sich der schwäbische Ort große Mittelstadt nennen. Trotzdem gelingt es der Stadt im Französischen Viertel, eine Atmosphäre und ein Lebensgefühl zu schaffen, die an das schwedische Dorf mit den drei Höfen aus Astrid Lindgrens Buch "Wir Kinder aus Bullerbü" erinnern.

Das Französische Viertel in Tübingen gilt, ähnlich wie der Freiburger Stadtteil Vauban, als städtebauliches Vorzeigeprojekt, und es könnte auch Vorbildfunktion für die Pläne für München haben, die die grüne OB-Kandidatin Sabine Nallinger nun wieder auf den Tisch gebracht hat. Nallinger möchte die Autos weitgehend aus der Innenstadt verbannen, das Zentrum solle zu einer "Altstadt für Flaneure" werden.

In Tübingen versucht man sich an dieser neuen Form des urbanen Wohnens und Arbeitens schon seit rund zehn Jahren, und das recht erfolgreich. Als die französischen Truppen Anfang der neunziger Jahre abzogen, kaufte die Stadt das verlassene Kasernengelände und entwickelte für das neue Stadtviertel ein Konzept, das im Wesentlichen allen städteplanerischen Prinzipien widersprach, die in den Nachkriegsjahren als gut und richtig galten.

Weg von der Funktionstrennung, zurück zur Mischform, lautet die Ansage für die neue Urbanität. Im Französischen Viertel in Tübingen war die treibende Kraft hinter der Idee der ehemalige Leiter des Stadtsanierungsamts, Andreas Feldtkeller. Heute ist der grüne Oberbürgermeister der Stadt, Boris Palmer, einer der größten Fans des Viertels. Zum Treffpunkt im Café Latour, einem entspannten kleinen Lokal im Quartier, in dem Schach gespielt wird und es an diesem Tag als Mittagstisch Ratatouille mit Couscous und Erdbeerquark gibt, fährt Boris Palmer in Anzug und Fahrradhelm auf einem Elektrofahrrad vor, sein offizielles Dienstfahrzeug. Palmer besitzt selbst eine Wohnung im Viertel, sieben Jahre hat er darin gewohnt, ist aber mittlerweile in die Altstadt gezogen, "weil ich da auch noch die ganzen Zentralfunktionen habe, und historisches Ambiente, das gibt's hier nicht".

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Palmer sagt: "Wesentlich für dieses Viertel ist auch ein anderes, ein soziales Mobilitätskonzept. Die Nutzungstrennung ist doch überholt. Früher hieß es: Fabrik raus aus der Stadt, Einkaufszentrum an die Autobahn, und gewohnt wird in langweiligen Schlafstädten. Heute muss man das Gegenteil machen." Das Gegenteil bedeutet: Mischung. Wohnen, arbeiten und versorgen soll wieder nah beieinander liegen. "Natürlich braucht man da eine Lösung für den Verkehr", sagt Palmer. "Niemand will neben dem Supermarkt oder an der Hauptverkehrsstraße wohnen." Der Schlüssel für die Lösung dieses Problems seien sehr strikte Regelungen für das Parken, erklärt der Oberbürgermeister. "Wo die Autos nicht abgestellt werden können, da fahren sie auch nicht hin."

Im Französischen Viertel wurde dieses Konzept, das sich manche auch für die Münchner Innenstadt wünschen, konsequent umgesetzt. Keiner der Bewohner hat hier einen individuellen Parkplatz auf dem eigenen Grundstück. Stattdessen gibt es zwei Quartiersparkhäuser. 80 Euro kostet ein Stellplatz. Die Parkhäuser sind strategisch platziert, am Rand des Viertels, genau an der Zufahrt. Lediglich in einer zentralen Straße gibt es Kurzzeitparkplätze, dazu ein paar Stellflächen für Carsharing. Das hält nicht nur das Quartier weitestgehend autofrei, sondern hat auch noch beabsichtigte Auswirkungen aufs soziale Miteinander. "Wenn die Leute mit dem Auto in ihre eigene Tiefgarage fahren und dann mit dem Aufzug direkt vor die Wohnungstür", sagt Palmer, "dann hat man wieder das Phänomen der toten Schlafstadt: Niemand ist auf der Straße, und es gibt weniger soziale Kontakte, denn dafür muss man sich begegnen."

Es wird sich recht viel begegnet im Viertel. Das liegt auch an der hohen Einwohnerdichte: 2000 Menschen wohnen, 700 arbeiten hier. Auf einen Quadratmeter Grundfläche kommen durch die Bebauung etwa drei Quadratmeter Wohn- oder Arbeitsfläche. "Das ist viel, aber wir brauchen diese Dichte, damit das Viertel funktioniert", meint Boris Palmer. "Geschäfte und Kneipen brauchen eine bestimmte Anzahl Menschen in fußläufiger Entfernung zum Überleben." Diese Form der Bebauung sei nur unter äußerster Dehnung der Normen herstellbar, die mit längst überholten Hygieneverhältnissen zu tun haben: damit nicht auf zu großer Enge lebende Menschen von Seuchen dahingerafft werden. "Aber eine moderne Stadt funktioniert nun mal nicht mit Einfamilienhäusern", schimpft Palmer. "Da kann man dann die Autos in die Doppelgarage stellen, aber der Rest findet wieder woanders statt."

Auch die Mischung von Wohnen und Gewerbe ist nicht einfach umzusetzen. Die Schreinerei, die schon lange im Viertel beheimatet ist, dürfte dort wegen möglicher Lärmbelästigung eigentlich gar nicht stehen. "Wir sind auf den guten Willen angewiesen", sagt der Oberbürgermeister und ergänzt mit Trotz in der Stimme: "Mittlerweile ist es so, dass man guten Städtebau eigentlich nur unter Umgehung der Vorschriften schafft."

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Trotzdem entsteht hier nicht der Eindruck einer vollgepackten Wohnsiedlung; das liegt auch daran, dass auf den parkplatzfreien Straßen recht viel Platz ist. Und daran, dass es sich die Bewohner dort hübsch machen: Überall grünt und wuchert und blüht und rankt etwas, die Häuser sind in bunten Farben angestrichen, große Glasfronten ohne Vorhänge in vielen Wohnungen vermitteln ein Gefühl von Offenheit. Zwischen den Häuserblocks liegen Innenhöfe, mit meist üppiger Bepflanzung und selbst gebauten Spielgeräten. Die Höfe sind für alle Bewohner der angrenzenden Häuser da - Zäune aufzustellen oder die Terrasse einzumauern ist verboten. "Diese Mischung aus öffentlichen und halböffentlichen Flächen funktioniert gut", meint Palmer.

Ganz reibungslos aber offenbar auch nicht, wie ein Schild in einem der Höfe demonstriert: Unterzeichnet mit "Die Hausverwaltung" wird darauf hingewiesen, dass dies der "private Rückzugsbereich der nahezu 100 Bewohner im Projekt 14" sei und dass man, möchte man sich umsehen, "unnötigen Schmutz" bitte vermeiden möge.

Ein paar Regeln braucht es dann eben doch fürs soziale Miteinander. "Die Leute sind hier keinen Deut besser oder schlechter als im Rest der Stadt", meint der Oberbürgermeister. Das Maß an sozialer Kontrolle sei hier sicher größer als in einer totalen Großstadt. "Die Leute kennen sich und sagen sich, was ihnen passt und was nicht, das ist doch besser als gleich die Polizei einzuschalten."

Lässt sich das Tübinger Vorzeigeprojekt des neuen urbanen Lebens aber überhaupt auf andere, größere Städte übertragen? Palmer ist davon überzeugt. "Das Argument, das ginge doch nur in Tübingen, höre ich zu oft. Das ist Denkfaulheit." Das Prinzip der Baugemeinschaften, die die Häuser auf dem alten Kasernengelände geplant haben, gebe es mittlerweile auch in Hamburg und Berlin. Außerdem habe doch jede Stadt irgendwo Flächen für neue Viertel. Selbst München, findet Palmer: "Ich fahre oft mit dem Zug in die Stadt, da habe ich den Eindruck, entlang der ganzen Strecke bis zum Hauptbahnhof war eine riesige leere Fläche, die gerade zugeklotzt wird. Sieht für mich aber aus wie ziemlich plumpe Investorenbebauung."

© SZ vom 23.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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