Christiania-Fahrräder:Bananen in der Box

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Das Christiania-Rad ist etwas wunderbar Praktisches, nur scheinen es manche mit einem Mülleimer zu verwechseln.

Michaela Maria Müller

Dass der Anfang einer Firmengeschichte romantisch ist, kommt nicht oft vor. Bei den Lastenrädern der Marke Christiania war es so. Annie Lerche und Lars Engstrøm lebten Anfang der achtziger Jahre in einer autonomen Kommune in Kopenhagen. In der Freistadt Christiania wurde viel gesponnen und verworfen. Aber eines war klar: Autos waren tabu. Auf eine Familienkutsche verzichten, wollte Engstrøm aber trotzdem nicht. Er ist gelernter Schmied und fing eines Tages an zu tüfteln. Ein Rad, mit dem man Umzüge fahren und Kinder vom Kindergarten abholen konnte - das musste doch möglich sein.

Belastbar: Die dänischen Christiania-Räder gibt es in verschiedenen Ausführungen in Deutschland zu Preisen zwischen rund 1200 und 3800 Euro. Bei Familien mit Kindern besonders beliebt ist das Modell Light. (Foto: N/A)

Renaissance des Fahrrads

1984 hatte er es geschafft. Das erste Lastenrad war fertig. Und wo bleibt die Romantik? "Der Prototyp des Rades war ein Geburtstagsgeschenk von Lars an mich", sagt Annie Lerche. Mittlerweile leben sie mit ihren drei Kindern auf Bornholm. Dort steht auch die Fahrradfabrik mit rund 20 Angestellten.

Das Rad der Hippie-Kommune ist zum Exportschlager geworden. Annie Lerche schätzt, dass mittlerweile 15.000 Dänen ein Rad ihr Eigen nennen. Doch die Begeisterung kennt keine Grenzen. Vor allem aus London kommen immer mehr Aufträge. Das liegt an der Einführung der Umweltzone, die die Autofahrer weitgehend aus der Innenstadt verbannte.

Seit Februar 2003 muss jeder Autofahrer eine Maut von mittlerweile acht Pfund pro Tag entrichten. Das motorisierte Verkehrsaufkommen ging um 25 Prozent zurück. Und das Rad feiert seitdem eine Renaissance. Das merkten Annie Lerche und Lars Engstrøm im fernen Bornholm. Die Fabrik ist voll ausgelastet, letzten Sommer gab es Lieferschwierigkeiten.

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Wer sich in Deutschland ein Christiania-Rad kaufen will, bekommt es mit Gaya Schütze zu tun. Sie ist die Inhaberin des Berliner Fahrradladens im Mehringhof und der Vertriebspartner der Räder. Rund 100 Fahrradläden hat sie gewonnen, die in der Lage sind, das Rad zu montieren. Das ist das Schwierigste. "Selbst für einen geübten Mechaniker kann die Montage zweieinhalb bis drei Stunden dauern. Das ist abhängig vom Modell. Manche Kunden holen sich das Rad direkt aus Dänemark, weil es günstiger ist. Bei der Montage zu Hause gibt es meistens Probleme. Dann ist das Rad letztendlich doch teurer als der Kauf beim Händler am Ort."

Der Kreuzberger Hinterhof ist voll mit Rädern: Stadträder, flotte Rennräder, ein paar Hollandräder und die fertigen Reparaturaufträge warten auf ihre Besitzer. An die Hauswand geschmiegt, steht das Modell H-Box zum Probefahren. Seit 2000 vertreibt Gaya Schütze die Christiania-Räder. "Die Alltagstauglichkeit in der Stadt war für uns das wichtigste Kriterium. Im innerstädtischen Raum haben sie für uns am besten abgeschnitten. Der Wendekreis ist klein. Für ein Lastenrad haben sie ein niedriges Gewicht. Sie sind nicht breit. Man kommt zwischen zwei Pollern durch und die Radwege sind befahrbar."

Mal sehen. Bis zu 100 Kilogramm lassen sich in der farbigen Box vor dem Lenker transportieren. 100 Kilo und das Fahren macht noch immer Spaß! Die Sieben-Gang-Shimano-Schaltung überbrückt zuverlässig kleine Steigungen. Nur das Lenken muss man neu lernen. Trotz des kleinen Wendekreises des Rades wird man beim Abbiegen ganz schön in die Schräglage gezogen.

Auffällig, aber nicht klauanfällig

"Alles eine Frage der Praxis", sagt Gaya Schütze. Dafür hat man die Kinder vorn in der Box immer im Blick. Für ihren Transport nutzen es die meisten Kunden. H-Box oder Light sind die beliebtesten Modelle. Mit Kindern in der Box ist der Einbau einer Bank mit Sicherheitsgurten empfehlenswert. So ausgestattet lassen sich bequem zwei Kinder und der Wocheneinkauf transportieren.

Für manche Firmen ist das Christiania-Rad Teil der Corporate Identity geworden. "Wir haben ein bayerisches Industriewerk als Kunden. Sie lassen sich auf die Box das Firmenlogo lackieren und setzen es auf dem Werksgelände ein. Mittlerweile haben sie fünf oder sechs Räder." In Berlin gibt es einen Schornsteinfeger, der auf das Rad nicht mehr verzichten möchte sowie ein Dentallabor am Ku'damm, das damit Waren ausliefert. Selbstverständlich beliefert die dänische Post ihre Kunden mit dem Rad - und auch der Briefträger der noch immer autonomen Postbehörde in der Freistadt Christiania.

"Die Räder sind auffällig, aber nicht klauanfällig", sagt Gaya Schütze. "Das einzige Problem ist, dass die Box von Passanten als Mülleimer missbraucht wird. Die Besitzer finden immer wieder Bananenschalen in der Box."

© SZ vom 19.04.2008/gf - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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