Viehzucht:Das Original

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Die farbenprächtigen Fellmuster und häufig über zwei Meter ausladenden Hörner sind typisch für die Rinder. (Foto: Gallo Images/Getty Images)

Einst lebten sie wild und frei, perfekt angepasst an steinige Halbwüsten - und standen dennoch vor dem Aussterben. Nun grasen sie wieder im Südwesten der USA: die Longhorns.

Von Hubert Wetzel

Im Winter des Jahres 1846 marschierte eine Einheit der US-Armee durch das trockene Buschland an der Grenze zu Mexiko. Die Vereinigten Staaten führten damals Krieg gegen ihren südlichen Nachbarstaat, die Truppe war auf dem Weg nach Kalifornien. Am 11. Dezember trafen die etwa 400 Soldaten am San Pedro River auf einen Feind. Aber es war nicht die mexikanische Armee, die sie attackierte, es waren auch keine Indianer, die dort damals noch erbittert gegen die Weißen kämpften.

Es waren Rinder.

In einem breiten, mit Gras bewachsenem Tal kam es zur Schlacht. "Ich musste die Männer anweisen, ihre Musketen zu laden und sich zu verteidigen", berichtete später der amerikanische Kommandeur, Oberst Philip Saint George Cooke. "Die Tiere griffen ohne Provokation an, und das hohe Gras vergrößerte die Gefahr noch; eins der Tiere ging auf einen Soldaten los, erwischte ihn mit dem Horn am Schenkel und warf ihn der Länge nach über den Rücken." Am Ende des Kampfes - vermutlich das einzige dokumentierte Gefecht zwischen einer Rinderherde und einer militärischen Formation - waren einige Soldaten verletzt. Gut 60 Bullen waren tot. Danach schlugen sich die Männer zwei Wochen lang die Bäuche mit Rindfleisch voll.

Die Tiere, die Cookes Einheit angegriffen hatten, waren nicht irgendwelche Rindviecher. Es waren sogenannte Longhorns, eine legendäre Rasse, die ihren Namen wegen ihrer gewaltigen Hörner bekommen hat. Es gibt wohl keine Rinderart, die den Mythos von Amerikas weitem und wildem Westen, von Cowboys und Kühen so geprägt hat wie das Longhorn. Das Wappentier der USA ist der Weißkopfseeadler, Haliaeetus leucocephalus; der ehemalige Präsident Barack Obama hat zudem Bos bison, den Büffel, zum nationalen Säugetier erhoben. Aber eigentlich gehört in diese Reihe Ikonen auch Bos taurus, das Hausrind, und zwar in seiner beeindruckenden texanischen Variante: das Longhorn.

Die Vorfahren der Longhorns kamen einst im 15. Jahrhundert mit Christoph Kolumbus in die Neue Welt. Spanische Siedler zogen mit den Tieren dann von Mittelamerika nach Norden, Ende des 17. Jahrhunderts erreichten sie die Gegend, in der heute Texas liegt. Gut 150 Jahre lang lebten die Rinder dort weitgehend wild und frei, sie vermehrten sich ungehindert und entwickelten über Generationen ihre charakteristischen Eigenschaften.

Für die Longhorns war es ein hartes Leben in einen harten Land. Westlich des 98. Längengrads ändern sich auf dem nordamerikanischen Kontinent Terrain und Klima. Der Boden wird karg, große Teile des amerikanischen Südwestens sind steinige Halbwüste. Während die Bisons auf der Prärie über endlose, saftige Grasebenen wandern konnten, mussten sich die Longhorns in Texas mit den wenigen Halmen begnügen, die zwischen Kakteen und Mesquitebäumen wuchsen. Und mit der Zeit wurden die Rinder wie das Land - zäh und mager. Longhorns vertragen Hitze und Trockenheit gut, sie sind genügsam und haben harte Hufe und lange Beine. Sie können große Strecken gehen, um Wasser und Futter zu suchen, und sie überstehen brennend heiße Tage in der Wüste ebenso gut wie kalte Nächte und Gewitterstürme.

"Ich lasse sie hier draußen eigentlich ganz alleine", sagt Curtis Ohlendorf, der südlich von Austin im texanischen Busch eine kleine Longhorn-Herde hält. Ohlendorf, dessen Großväter aus Deutschland stammten, ist hier auf einer Farm aufgewachsen, er hat als Junge in den Fünfzigerjahren die große Dürre in Texas miterlebt, als der Regen wegblieb und das Land zu Staub wurde. Heute ist Ohlendorf 72 Jahre alt, er ist längst in Rente, aber er hält noch 170 Longhorns. Gut 2000 Acres Land brauchen seine Tiere, um genügend Futter zu finden, etwa acht Quadratkilometer. Aber das reicht den Kühen dann auch. "Sie fressen das Gras, wenn sie sehr hungrig sind auch die Schoten der Mesquitebäume", sagt Ohlendorf. Im Winter, wenn das Gras gefriert, stellt der Rancher seinen Tieren einen Bottich voll schwarzer Melasse hin, ein Zuckersirup, der die Rinder stärkt.

Die Tiere überlebten auch deshalb im Busch, weil sie sich gut gegen Kojoten, Bären oder Pumas verteidigen konnten

Ansonsten kommen die Longhorns ganz gut ohne den Menschen zurecht. Sie sind robust und werden so gut wie nie krank. Zudem sind ihre Kälber kleiner und leichter als die anderer Rinderrassen, die vor allem wegen ihres Fleisches gezüchtet werden. Die Longhorn-Kühe bringen ihre Kälber alleine im Busch zur Welt, ein paar Stunden später staksen die Kälbchen hinter den Müttern her. "In 20 Jahren habe ich nur eine Kuh beim Kalben verloren", sagt Ohlendorf. Später bekommen die jungen Rinder eine Kennnummer und ein Zeichen eingebrannt, sodass man erkennt, wem sie gehören. Einen Stall sehen die meisten Longhorns ihr Leben lang nicht.

Curtis Ohlendorf liebt besonders das Fell seiner Tiere. Longhorns haben über die Jahrhunderte eine erstaunliche Vielzahl an Fellfarben und -zeichnungen entwickelt. Bei kaum einer anderen Rinderrasse unterscheiden sich die einzelnen Tiere so stark voneinander. Es gibt einfarbige, gestreifte, scheckige und wild gefleckte Longhorns, es gibt braune, rotbraune, schwarze, weiße, graue und graublaue Tiere. Im Vergleich dazu sehen die immer gleichen schwarzen Angus-Rinder oder blonden Charolais-Kühe allesamt wie Klone aus dem Labor aus.

Das spektakulärste Merkmal der Longhorns sind freilich die Hörner - weit ausladend, an den Enden nach oben oder nach vorne gebogen, scharf und gefährlich. Bei manchen Tieren wachsen die Hörner vom Kopf gerade zur Seite weg, bei anderen eher in die Höhe, manche Hörner sind in sich verdreht. Zwei Meter Spannweite sind keine Seltenheit. Ohlendorfs größter Bulle misst von Hornspitze zu Hornspitze genau 82 Inch, das sind 208 Zentimeter. Die weiteste Hornspanne, die je bei einem Longhorn gemessen wurde, beträgt 121 Inch - furchterregende drei Meter und siebeneinhalb Zentimeter. Trotzdem wissen die Tiere genau, wie sie den Kopf halten und bewegen müssen, um mit den schweren Hörnern nicht anzustoßen oder im Unterholz hängen zu bleiben.

Wenn Curtis Ohlendorf auf der Weide seine Rinder anlockt, sind die Hörner das Erste, was man sieht. Sie schwanken hoch über dem Gras und Gestrüpp, mächtig, spitz und bedrohlich. Erst dann tauchen die Köpfe und Körper der wuchtigen Tiere auf, die diese Hörner tragen. Man kann sich vorstellen, wie erschrocken damals Oberst Cookes Männern gewesen sein müssen, als sie plötzlich von solchen Biestern attackiert wurden.

Allerdings waren die Hörner der Longhorns vor 160 Jahren noch nicht ganz so lang wie heute. Die enormen Hornspannen sind auch ein Ergebnis der modernen Züchtung, denn die meisten Longhorn-Besitzer wollen genau das - lange, breite Hörner. Als Ohlendorf noch ein junger Mann war, waren Spannweiten von 50 Inch schon respektabel, also gut 1,25 Meter. "Jetzt sind wir bei 80 Inch als Normalmaß", sagt er. Für Züchter wird es deswegen immer schwieriger, ihre Rinder in Anhänger zu verladen, wenn sie zum Tierarzt, zum Decken oder zu einer Auktion gefahren werden sollen. Manchmal brechen dann die Hornspitzen ab, weil die Tiere gegen die Wände des Hängers krachen.

Zugleich haben die Züchter den Longhorns in den vergangenen Jahrzehnten einen Gutteil ihrer ursprünglichen Wildheit und Angriffslust ausgetrieben. Longhorns konnten auch deshalb jahrhundertelang so gut im Busch überleben, weil sie sich und ihre Kälber gegen Kojoten, Bären oder Pumas verteidigen konnten. Oder eben gegen Soldaten, wenn die gerade vorbeikamen. Heute jedoch sind Longhorns eher zutrauliche Wesen, wenn sie einen Menschen mit dem Horn erwischen, dann meistens mehr durch Zufall als mit Absicht. Die meisten Halter schicken aggressive Tiere sofort zum Schlachter.

Im März dieses Jahres brachte eine Longhorn-Kuh bei einer Auktion 380 000 Dollar ein, so viel wie ein teures Gemälde

Ihre Hochzeit hatten die Longhorns in den zwei Jahrzehnten nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Bis zu zehn Millionen der Tiere, die wild im Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko lebten, wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts eingefangen und in Herden von einigen Tausend Stück nach Norden getrieben. Für die Viehhirten - die Cowboys - war das eine gefährliche Knochenarbeit, denn Longhorns sind zwar gute Geher, sobald sie unterwegs sind. Aber eigentlich mögen sie es nicht, von Menschen auf Pferden zusammengetrieben zu werden. Sie sind störrisch und brechen aus und wehren sich. Für die meisten Longhorns endete der Marsch an den großen Verladebahnhöfen in Kansas, von wo aus sie in die Schlachthöfe von Chicago und an der Ostküste verfrachtet wurden.

Andere Longhorn-Herden aus Texas wurden im späten 19. Jahrhundert dazu genutzt, um die Great Plains mit Nutzvieh zu bestücken. Die Indianer und die Büffel, die das Land dort einst beherrscht hatten, waren von der US-Kavallerie und weißen Jägern vertrieben oder getötet worden, das Land stand leer. Nun wurden auf den weiten Grasebenen Longhorns angesiedelt, die risikofreudige Rancher damals noch vom Rio Grande in Texas bis zum Yellowstone River in Montana treiben konnten, ohne dass ein einziger Stacheldrahtzaun ihren Treck behindert hätte.

Allerdings vertrugen die Rinder das raue Winterklima im Norden nicht so gut wie die dickfelligen Bisons. In den bitteren Wintern der Jahre 1885 und 1886 verendeten Millionen Longhorns elendig in Blizzards, die ihre Weiden unter Eis und Schnee begruben. Sie erfroren und verhungerten - ein tragisches Ereignis, das als The Great Die-Up, das große Sterben, in die Geschichte des amerikanischen Westens eingegangen ist. Hunderte Rancher gingen damals bankrott, und als die Viehbestände später wieder aufgefüllt wurden, gaben die Züchter jenen europäischen Rinderrassen den Vorzug, die mehr und schneller und fetteres Fleisch ansetzen als die schlanken Longhorns.

Das ist bis heute so: Die kommerziellen Rancher in den USA halten alle möglichen Rinderrassen - Angus, Herefords, Gelbvieh, Simmentaler, Holstein-Kühe, Charolais oder Brahmans -, aber so gut wie keine Longhorns mehr. Laut der jüngsten Zählung des Agrarministeriums gab es in den USA zu Beginn des Jahres knapp 94 Millionen Rinder; gerade ein halbes Prozent davon waren Longhorns.

Aber immerhin gibt es die Longhorns noch. In den Zwanzigerjahren hatte die Rasse kurz vor dem Aussterben gestanden, so wie eine Generation zuvor die Bisons. 1927 fing der Forest Service in Texas eine kleine Herde Longhorns ein und brachte sie in ein Reservat in Oklahoma, um die Rasse zu retten. Heute ist der Bestand wieder stabil, beim größten Züchterverband, der Texas Longhorn Breeders Association of America, sind gut 460 000 Rinder registriert.

Doch es sind vor allem Hobbyzüchter wie Curtis Ohlendorf, welche die Rasse am Leben erhalten. Der alte Rancher lässt jedes Jahr ein Tier für den eigenen Bedarf schlachten, ansonsten schaut er glücklich zu, wie sie über seine Weiden stampfen. Nur ab und an verkauft er eine Kuh. Es gibt reiche Texaner, die sich Longhorns auf ihrer Ranch in den Garten stellen, weil sie so malerisch und urig aussehen. Manche Züchter verdienen damit viel Geld: Im März brachte eine Longhorn-Kuh bei einer Auktion 380 000 Dollar ein, so viel wie ein teures Gemälde. Das Longhorn, das einst frei, mutig und ungezähmt durch Texas zog - heute ist es kaum noch mehr als Dekoration.

© SZ vom 01.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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