Die Passagiere an Bord des United-Airlines-Flugs 935 haben eine Transatlantikpassage gebucht. Sie bekommen eine Achterbahnfahrt: Bereits vier Stunden ist die Boeing 777 im Mai 2010 von London nach Los Angeles unterwegs, als sie über der Südspitze von Grönland plötzlich absackt. Mit knapp 15 Kilometern pro Stunde geht es in die Tiefe. Wenige Augenblicke später werden die 195 Passagiere mit fast der doppelten Geschwindigkeit wieder nach oben katapultiert. Die Kräfte, die dabei an ihnen zerren, entsprechen dem Zweifachen des Körpergewichts.
Vorne im Cockpit haben die Piloten alle Hände voll zu tun. Die Fluggeschwindigkeit steigt in den gefährlichen Bereich, der Erste Offizier nimmt Schub weg, das Flugzeug wird langsamer, beschleunigt dann nochmals rapide - über das maximal zugelassene Tempo hinaus. Mehr als 30 Höhenmeter geht es hinab und dann wieder hinauf.
Vorbereitet auf die unfreiwillige Achterbahnfahrt ist niemand. Als "überraschend und extrem heftig" wird sie der Kapitän später im Untersuchungsbericht der Luftfahrtbehörde beschreiben. Weder sind die Turbulenzen auf den Wetterkarten verzeichnet, noch gibt es Warnungen anderer Flugzeuge. Daher leuchten auch die Anschnallzeichen nicht auf. Eine Flugbegleiterin bricht sich das Bein, ein Passagier verletzt sich am Knöchel. Vor dem Weiterflug nach Los Angeles muss die Maschine im kanadischen Montreal landen.
Flug UA935 hatte die Auswirkungen sogenannter Leewellen zu spüren bekommen- eines atmosphärischen Phänomens, das zunehmend ins Interesse der Forschung rückt. Es entsteht, wenn Luftmassen mit hoher Geschwindigkeit nahezu senkrecht auf ein Hindernis wie eine Gebirgskette oder die Eismassen von Grönland treffen. Die Luft steigt auf, pfeift über den Kamm und rauscht im Windschatten ("Lee" genannt) in die Tiefe. In Bayern nennt man dieses Phänomen Föhn. Entscheidend für den Flugverkehr ist aber nicht die Wärme, die die fallenden Winde bringen. Im unteren Bereich des Hanges bilden sich Wirbelwalzen mit starken Auf- und Abwinden, darüber werden die Luftteilchen zum Schwingen anregt. Atmosphärische Wellen entstehen. Sie sind mitunter noch in Höhen von 25 Kilometern zu spüren.
Je nachdem, wie sich Wind und Temperatur in den oberen Luftschichten verändern, können diese Wellen brechen - ganz ähnlich wie Meereswellen, die aufs immer flacher werdende Ufer zulaufen. Turbulenzen drohen. "Wenn so eine Welle bricht, wird es gefährlich. Dann bekommt ein Pilot große Probleme, Höhe und Geschwindigkeit im zulässigen Bereich zu halten", sagt René Heise, Meteorologe beim Mountain Wave Project der Organisation Scientifique et Technique du Vol à Voile (OSTIV). Der internationale Zusammenschluss von Segelfliegern hat sich zum Ziel gesetzt, die technischen und wissenschaftlichen Aspekte des Segelflugs zu untersuchen. Seit mehr als 15 Jahren fällt darunter auch das Studium von Leewellen (englisch: Mountain Waves).
Ursprünglich ist das Projekt allerdings aus einem eigennützigen Grund gestartet worden: um neue Flugrekorde aufzustellen. Was Passagieren im Ferienflieger Angst macht, bringt Segelflieger in ungeahnte Höhen. Neben thermischen Aufwinden, hervorgerufen durch die Sonneneinstrahlung, ist der Ritt auf Leewellen ein bevorzugtes Mittel, um ohne Motor rasch an Höhe zu gewinnen. Der Pilot muss nur wissen, wann und wo die besten Wellen mit den stärksten Aufwinden zu finden sind.
Um mehr darüber herauszufinden, riefen Heise, selbst Pilot, und der deutsche Rekordsegelflieger Klaus Ohlmann 1998 das "Mountain Wave Project" ins Leben. Rund um den Globus analysierten sie Gebirgszüge und Luftströmungen. In den Anden, wo der vorherrschende Westwind frontal auf eine bis zu 6962 Meter hohe Bergkette trifft, wurden sie fündig. Im November 2003 legte Ohlmann dort als erster Segelflieger in einer Richtung mehr als 2000 Kilometer am Stück zurück - eine Strecke von München bis nach Marokko.
Entscheidende Vorgänge ereignen sich über Grönland, in 6000 Meter Höhe
Inzwischen haben sich die Prioritäten des Projekts verschoben, es geht nicht mehr nur um Rekorde "Für mich steht im Mittelpunkt, die komplexen Strukturen in der Atmosphäre richtig zu verstehen und gezielt vorherzusagen", sagt Heise. "Was kann ich Piloten, egal ob im Segel- oder im Verkehrsflugzeug, mitgeben, damit sie Wellen und die damit verbundenen Turbulenzen und Geschwindigkeiten richtig einschätzen können?" Ende 2013 ist das Team deshalb nach Nepal aufgebrochen. Dort ging es nicht nur darum, mit dem Segelflugzeug eine 3-D-Karte des Mount Everest zu erstellen. Die Crew wollte auch die komplizierten Wellen rund um den höchsten Berg der Erde besser verstehen.
Heise ist nicht allein. Auch der Deutsche Wetterdienst (DWD) kümmert sich in jüngster Zeit verstärkt um Leewellen und Turbulenzen. In den aktuellen Flugwetterkarten lassen sich seit vergangenem Jahr Informationen über die vertikalen Geschwindigkeiten in verschiedenen Luftschichten abrufen. Im März 2014 sind Längsschnitte durch ausgewählte Bergketten hinzu gekommen. Sie weisen auf Regionen mit besonders starken Auf- und Abwinden hin.
Bislang ist das allerdings nur für Deutschland und die benachbarten Grenzregionen möglich. "Unser globales Modell ist viel zu grobmaschig, um Effekte simulieren zu können, die durch kleinräumige Höhenstrukturen ausgelöst werden", sagt Michael Noll, der beim DWD die digitalen Flugwetterkarten betreut. Während die weltweite Simulation des Wetterdienstes die Atmosphäre in Abschnitte mit 20 Kilometern Größe unterteilt, berücksichtigt das spezielle Modell für Deutschland Strukturen mit einer Abmessung von 2,8 Kilometern - es ist gerade gut genug, um Leewellen mit der notwendigen Qualität zu simulieren. Mehr als 21 Stunden können die lokalen Modelle allerdings noch nicht in die Zukunft schauen. "Erst gestiegene Rechnerkapazitäten haben solche routinemäßigen Vorhersagemodelle in den vergangenen Jahren überhaupt möglich gemacht", sagt Noll.
Überprüft werden die Prognosen mit Funksonden, die alle zwölf Stunden rund um den Globus in die Atmosphäre aufsteigen und dabei auch Ausgangswerte für künftige Vorhersagen liefern. "Vor allem die Vertikalgeschwindigkeiten lassen sich in der Regel aber nur dadurch verifizieren, dass Segelflieger sagen: Ja, die Vorhersage war gut, das hat gestimmt", so Noll. Um die Modelle zu optimieren, bedient sich der DWD daher bei den Datenbanken, in denen Segelflieger alle geflogenen Strecken eintragen.
Auch Passagierjets leisten ihren Beitrag: 650 Flugzeuge europäischer Gesellschaften funken mindestens alle sieben Minuten die aktuelle Temperatur, Luftfeuchte, Windstärke und -richtung zum DWD nach Offenbach. Das funktioniert sehr gut in der Nähe von Flughäfen, verhältnismäßig gut über den Kontinenten, sehr beschränkt über den Ozeanen: Flugzeuge sind dort nur auf ganz bestimmten Routen und meist in einer Höhe von gut zehn Kilometern unterwegs. Die entscheidenden Vorgänge für Leewellen ereignen sich aber, zum Beispiel über Grönland, in Höhen zwischen null und 6000 Metern. Dort misst kein Flugzeug, aber die Wellen haben noch in der Reiseflughöhe Effekte.
"Der nach wie vor größte Unsicherheitsfaktor unserer Vorhersagen ist die unzureichende Kenntnis des meteorologischen Ausgangszustands - ganz besonders über dem Atlantik und dem Pazifik", sagt Michael Noll. Wenn aber schon die Startwerte ungenau sind, dann kann das physikalische Prognosemodell noch so gut arbeiten, es wird stets falsche Ergebnisse liefern.
Hinzu kommt, dass die Rückmeldung über Turbulenzen immer noch lückenhaft ist. Besonders schwere Vorfälle werden von den Piloten zwar an die Flugsicherung gemeldet, die die Information anschließend an den Wetterdienst weitergibt. Eine systematische Erfassung gibt es allerdings nicht. Lediglich US-Flugzeuge ermitteln, so Heise, neben der Temperatur und der Luftfeuchte auch Werte für die Turbulenz. "Wenn man das in Verbindung mit dem aktuellen Zustand der Atmosphäre bringt, lassen sich daraus bessere Prognoseverfahren auf statistischer Basis entwickeln. Aber das ist erst im Entstehen", sagt der Meteorologe.
Heise, der sein Geld beim geophysikalischen Beratungsdienst der Bundeswehr verdient und dort unter anderem die flugmeteorologischen Vorhersagen für die Luftwaffe erstellt, verfolgt daher einen anderen Ansatz: Er sammelt Erfahrungswerte von Piloten, die - egal ob in Argentinien, über der Sierra Nevada oder in Südfrankreich - Leewellen genutzt haben. Die Position der Wellen, ihre vertikale Geschwindigkeit sowie das Ausmaß der Turbulenz werden in einer Datenbank abgelegt.
Heise hofft, diese Aufzeichnungen nutzen zu können, um gemeinsam mit den neuesten Wettermodellen bessere Turbulenzvorhersagen zu entwickeln. Dazu braucht es aber vor allem Informationen über brechende Leewellen auf Reiseflughöhe sowie über Wirbelwalzen in der Nähe von Flughäfen - und somit Testflüge durch genau solche Bedingungen.
Auch der Deutsche Wetterdienst arbeitet aktuell daran, den Ort und die Stärke von Turbulenzen vorherzusagen. "Das ist nicht nur ein Sicherheitsaspekt, das erhöht auch den Komfort beim Fliegen", sagt Michael Noll. Zwar tauchen auf den Flugwetterkarten schon heute Warnungen vor Leewellen und Turbulenzen auf, diese sind aber in der Regel ungenau und betreffen ein großes Gebiet.
Auslöser für solche Warnungen ist oftmals allein die Tatsache, dass in unterschiedlichen Höhen unterschiedliche Winde wehen - kein zuverlässiger Faktor für die Vorhersage von Turbulenzen. Die Piloten dürften aber die Anschnall-Zeichen einschalten und Passagiere so auf ihre Plätze beordern.
"Künftig soll dagegen vor allem die Schichtung der Atmosphäre berücksichtigt werden. Ist sie stabil oder labil?", sagt Noll. Davon hängt ab, wie gut sich Leewellen ausbreiten und wie turbulent es auf Reiseflughöhe werden könnte. Ende des Jahres hofft der DWD auf erste Ergebnisse. Bis dahin bleibt Passagieren nichts anderes übrig, als genau das zu befolgen, was die Flugbegleiter ohnehin vor jedem Flug empfehlen: stets angeschnallt bleiben. Eben wie in der Achterbahn.