Eine Sex-Orgie, ein Paar in intimer Umarmung und ein Mann, der mit einer Stute kopuliert. Diese Bilder hängen an der Wand des Büros, in dem die kanadische Sexualwissenschafterin Meredith Chivers die weibliche Erregung erforscht. Über tausend Jahre alt sind die erotischen Reliefs vom indischen Khajuraho-Tempel, die 36-jährige Psychologin aus der Provinz Ontario hat sie selbst fotografiert. Fast könnte man annehmen, in Sachen Sex sei alles schon einmal dagewesen. Schwerer Irrtum, wie das Phänomen Meredith Chivers zeigt.
Weil sie Paarungsakte unter Bonobo-Affen in ihr Forschungsprojekt an der Queen's-Universität in Kingston einbaute, um menschliche Erregung zu messen, hat sie ihrerseits großes Aufsehen in Nordamerika erregt. "Meredith Chivers ist die Schöpferin von Bonobo-Pornographie", begann das New York Times Magazine einen Artikel über die rätselhafte weibliche Libido.
Dr. Chivers, Redaktionsmitglied der führenden Zeitschrift für Sexualforschung, Archives of Sexual Behavior, und eine anerkannte Forscherin, musste angesichts dieser Zeile schwer schlucken. Ein solches Medienecho hatte die attraktive Blondine, die Stiefel mit hohen Absätzen und modische Brillen mag, nicht erwartet. "Ich dachte, vielleicht werden einige Forscher ihre Augenbrauen hochziehen", sagt sie. Aber dann räumt sie in ihrer humorvollen und selbstironischen Art ein, dass diese Art von Forschung doch ziemlich atypisch sei: "Die Leute sind aus naheliegenden Gründen daran interessiert."
Sprich Tiersex. Bonobos sind sexuell besonders aktive Zwergschimpansen aus dem Kongo. Chivers führte Frauen und Männern im Forschungslabor einen zwei Minuten langen Film über kopulierende Bonobos vor. Da die Bonobos wenig Geräusche beim Sex machen, unterlegte sie die Sequenz mit Lustschreien anderer Schimpansen. Chivers will herausfinden, was Frauen sexuell erregt. Dazu testete sie eine ganze Reihe möglicher sexueller Stimuli - auch Bonobo-Sex. "Nicht, dass ich glaube, Frauen seien tatsächlich sexuell an Bonobos interessiert", schiebt sie nach.
Das Resultat des Versuchs war verblüffend: Während Sex zwischen Affen die Männer absolut kaltließ, reagierten Frauen mit sexueller Erregung darauf - allerdings nur im physischen Bereich. Subjektive Lust im Kopf empfanden sie keine. Überhaupt reagierten Frauen auf eine größere Auswahl sexueller Stimuli als Männer, wie Chivers' Experimente im Universitätslabor am renommierten Zentrum für Sucht und mentale Gesundheit in Kingston zeigten.
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Dort wurde ein sogenannter Plethysmograph mit den Genitalien der Versuchspersonen verbunden. Bei den Männern ist das eine Manschette, die über den Penis gestülpt wird, bei den Frauen eine Art Tampon, den man in die Vagina einführt und der die Durchblutung und Befeuchtung der Scheidenwände misst.
Die Teilnehmer mussten gleichzeitig per Tastendruck die Stärke ihrer sexuellen Erregung subjektiv bewerten. Dann führte ihnen Chivers Bilder und Porno-Filme vor: heterosexuelle Paarungen, schwuler und lesbischer Sex, Masturbation, nackte Menschen beim Yoga, schöne Landschaften und eben, die kopulierenden Bonobos.
Wie sich herausstellte, war das Erregungsmuster bei Männern relativ einfach: Heterosexuelle Männer erregten sich an Frauen, homosexuelle Männer an Männern. Die subjektive Einschätzung ihrer sexuellen Erregung per Tastendruck stimmte ziemlich genau mit der physischen oder objektiven Erregung im Penis überein.
Bei den Frauen dagegen war es viel komplizierter. Ob lesbisch oder heterosexuell, die weiblichen Versuchspersonen reagierten physisch auf alle möglichen Sex-Aktivitäten: Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Männer mit Frauen und Bonobo mit Bonobo. War es also nicht so sehr das Geschlecht wie bei den männlichen Versuchspersonen, sondern die sexuelle Aktivität an sich, die Frauen reagieren ließ? Im Gehirn löste der Bonobo-Porno allerdings überhaupt kein sexuelles Begehren aus: Die Frauen gaben per Tastendruck an, dass sie der Affenfilm nicht antörnte.
Es gab eine klare Spaltung von Gehirn und Vagina bei Frauen, wie Chivers Messungen ergaben. Das erklärt auch, warum Viagra bei Frauen nicht wirkt. Da kann die Vagina noch so durchblutet werden, im Gehirn, dem wichtigsten Sexualorgan, bewirkt es keine Erregung. Warum diese Spaltung zwischen physischer Erregungsreaktion einerseits und weiblichem Begehren andrerseits? "Das muss ich noch analysieren", sagt Meredith Chivers, und aus ihrer Stimme klingt die Lust an der Herausforderung.
Offene Fragen haben sie schon als Fünfjährige angespornt, als sie ihre Eltern bei einem Kuss beobachtete. Es war vor allem der technische Aspekt, der sie als Kind beschäftigte, erinnert sich Chivers: "Warum tun sie es durch die Berührung der Lippen? Warum nicht, in dem sie zum Beispiel Ellbogen aneinanderreiben?"
Sie vermutete damals, dass beim Küssen "eine Art von Transfer" stattfand. Auf alle Fälle legte sie sich die Theorie zurecht: "Durch Küssen werden Kinder gemacht." Als Teenager war sie so gut informiert und unbefangen, dass sie einem schüchternen Klassenkameraden das Diagramm der weiblichen Scham zeichnete, um ihm den Standort der Klitoris zu zeigen. "Ich erklärte jedes Detail", sagt Chivers. Ihre heimliche Lektion fand während des Religionsunterrichts in einer katholischen Schule statt.
Als sie an der Universität von Guelph, Ontario den ersten Kurs in menschlicher Sexualität besuchte, erkannte sie sogleich: "Wenn ich dieses Gebiet fortan studieren könnte, wäre ich eine ganz schön glückliche Person." Denn ihr Ziel ist es, den Frauen zu helfen, ihre Sexualität besser zu verstehen - und mehr zu genießen. Kurzzeitig beriet sie den deutschen Pharmakonzern Boehringer Ingelheim in den letzten Testphasen einer Droge namens Flibanserin, die das sexuelle Begehren von Frauen erhöhen soll.
Aber jetzt ist sie wieder zurück bei der Frage, warum die Körper von Frauen sexuelle Erregung zeigen können, ohne dass das Gehirn tatsächlich Lust empfindet. Vielleicht, spekuliert Chivers mit der Vorsicht einer Wissenschafterin, befeuchtet sich die Vagina angesichts sexueller Situationen und Bedrohungen, um Frauen etwa im Fall einer Vergewaltigung vor Verletzungen zu schützen.
"Bevor eine Frau fühlt, ob sie physisch erregt ist, hat das Gehirn den sexuellen Stimulus verarbeitet und eine physische Reaktion eingeleitet", erklärt sie. Im Blog der kanadischen Zeitung The Globe and Mail erzählte ihr eine Frau, dass sie während des Urlaubs in der Karibik vergewaltigt worden sei. Ihr Mann verstehe nicht, warum ihre Vagina befeuchtet war und deshalb während der Attacke nicht verletzt worden sei. Nun endlich hatte die Frau durch Chivers' Forschung eine Erklärung dafür - eine ungeheure Erleichterung für das Opfer.
"Aus diesem Grund mache ich diese Forschung", sagt Chivers. Dass ihr eigener Mann, mit dem sie ein kleines Kind hat, ebenfalls Sexualwissenschafter ist, erleichtert die Sache. "Wir haben viel Spaß bei der gemeinsamen Arbeit", sagt die Kanadierin.
Gefragt, ob die Testergebnisse bei deutschen Frauen vielleicht anders herausgekommen wären, überlegt sie kurz: "Ich weiß es nicht, das müssten wir erforschen." Dann enthüllt sie, dass sie das Buch "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche gelesen hat. Anfänglich fand sie gewisse Stellen "ein bisschen abstoßend", aber dann habe sie aus Neugier weitergelesen - und die Lektüre dann sehr genossen. "Lassen Sie sich nicht vom ersten Kapitel abschrecken", sagt sie fröhlich.