Serie: 200 Jahre Darwin (17):Ein Leben als Superorganismus

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Manche Ameisen-Staaten funktionieren wie ein einziges Wesen. Die Intelligenz, Kommunikation und Aggressivität dieser Superorganismen wirken fast menschlich.

Tina Baier

Als Bert Hölldobler das erste Mal von einer Ameise zum Kampf herausgefordert wurde, konnte er kaum glauben, was er sah. Die afrikanische Weberameise hob ihr Hinterteil, fuchtelte mit den Antennen in der Luft und sperrte ihre Mandibeln drohend auf: eine furchterregende Kampfmaschine, glücklicherweise nur etwa so groß wie ein Radiergummi.

Auf der Ameisenautobahn: Blattschneiderameisen bei ihrer reibungslosen Zusammenarbeit. (Foto: Foto: dpa)

"Ameisenforscher sind es nicht gewohnt, dass ihnen ihr Studienobjekt derart selbstbewusst, um nicht zu sagen arrogant gegenübertritt", schrieb Hölldobler über die Begegnung. Je länger er sich mit den Weberameisen beschäftigte, umso größer wurde seine Bewunderung. Die Insekten leben in riesigen Kolonien hoch oben in den Urwaldbäumen.

Ein Staat umfasst Hunderte von Nestern, verteilt auf bis zu 20 Bäume. Ihr Zusammenleben und -arbeiten haben die Weberameisen derart perfektioniert, dass sie wie ein einziges Lebewesen gesehen werden können, ein Superorganismus.

Der Eierstock dieses Lebewesens ist die Königin. Sie sitzt ihr Leben lang in einem der Nester und produziert Millionen von Nachkommen. Die Arbeiterinnen entsprechen den Körperzellen. Wie Muskel-, Gehirn-, oder Lungenzellen sind sie auf verschiedene Aufgaben spezialisiert.

Schon Charles Darwin hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, wie derart komplexe Insektenstaaten entstehen konnten. In ihrem neuen Buch "Der Superorganismus", das im Oktober im Springer-Verlag, Heidelberg, erscheint, beschäftigen sich Bert Hölldobler und sein Kollege Edward Wilson unter anderem mit der Evolution dieser hochentwickelten Ameisenstaaten, die in vielen Punkten an menschliche Gesellschaften erinnern - mit dem Unterschied, dass sie reibungsloser funktionieren.

Charakteristisch für einen Superorganismus ist, dass er Leistungen vollbringt, zu denen ein einzelnes seiner Mitglieder nie im Stande wäre und Lösungen für komplexe Probleme findet. Die Nester von Weberameisen beispielsweise sind architektonische Wunderwerke.

Die Tiere biegen im Vergleich zu ihrer Körpergröße riesige Blätter in die richtige Position für ihre Konstruktion. Weil die Kraft einer einzelnen Ameise dafür nicht ausreicht, bilden sie Ketten aus ihren eigenen Körpern. "Während die Crew alles zusammenhält, holen andere Arbeiterinnen Larven, die kurz vor der Verpuppung stehen", sagt Hölldobler. "Der Nachwuchs hält sich ganz steif und wartet auf ein Trillersignal mit den Antennen."

Kollektive Intelligenz

Auf Kommando sondert die Larve dann Seide ab, mit der die Blätter zu einem Nest zusammengeklebt werden. "Die Larven opfern die Seide für den Superorganismus, mit der andere Insekten ihren Kokon spinnen", sagt Hölldobler. Sie müssen sich deshalb nackt verpuppen, sind aber geschützt von einer Art kommunalem Kokon, zu dem sie selbst beigetragen haben.

"Die Arbeitsteilung im Superorganismus erinnert an große Organisationen in der menschlichen Gesellschaft", sagt Wolfgang Scholl, Organisations- und Sozialpsychologe an der Berliner Humboldt Universität. Wie bei den Ameisen gebe es auch dort niemanden, der das Ganze überblicken kann.

Trotzdem funktioniert das System, weil Individuen mit verschiedenen Fähigkeiten zusammen helfen. "Der einzelne bearbeitet nur kleine Problemausschnitte; Erfahrungen werden zu Programmen und Plänen schematisiert, die eine Menge Nachdenken ersparen", sagt Scholl.

Wie im Superorganismus der Ameisen entsteht dadurch eine kollektive Intelligenz, die wesentlich größer ist als die des einzelnen Mitglieds. Das gilt auch schon für die Zusammenarbeit in kleinen Gruppen: "Je komplexer eine Aufgabe ist, umso weniger ist sie von einer einzelnen Person lösbar, sagt Dieter Frey, Sozialpsychologe an der Universität München. Zum Beispiel können Menschen im Team ein Kreuzworträtsel besser lösen als allein. Jeder in der Gruppe kann Kenntnisse beisteuern, die die anderen nicht haben.

Die Blattschneiderameisen aus Südamerika haben dieses Prinzip perfektioniert. In ihrem Superorganismus gibt es zig Kasten und Unterkasten; jede ist auf eine Aufgabe spezialisiert und unterscheidet sich auch im Aussehen von den anderen.

Ein Kollege von Hölldobler hat einmal ein Erdnest der Art Atta in Brasilien mit Beton ausgegossen und anschließend ausgegraben. Er stieß auf eine riesige unterirdische Metropole mit Be- und Entlüftungsschächten und unzähligen Kammern, die sich über ein Fläche von 50 Quadratmetern erstreckte und acht Meter tief ins Erdreich reichte.

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In speziellen unterirdischen Gärten züchten Blattschneiderameisen einen Pilz, von dem sich die Kolonie ernährt. Um den Pilz zu füttern, schneiden große Arbeiterinnen mit kräftigen Kiefern Stücke aus Blättern heraus. Oft arbeiten die Tiere dabei zusammen wie Waldarbeiter, die gemeinsam einen Baum fällen.

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Artgenossinnen warten schon auf die ausgeschnittenen Stücke, zerkleinern sie und sortieren sie zu Haufen. Kleinere Kolleginnen holen die Stücke ab und transportieren sie auf einer Art Ameisenautobahn, die von Straßenarbeiter-Ameisen instand gehalten wird, zum Nest.

Alte Soldatinnen

Die kostbare Fracht wird schärfer bewacht als ein Geldtransport in der Menschenwelt: Am Rand der Straße positionieren sich große Soldatinnen mit scharfen Mandibeln. "In der Regel übernehmen ältere Tiere, die ohnehin nicht mehr lange leben, solche Risikotätigkeiten", sagt Hölldobler. "Das ist ein Unterschied zur menschlichen Gesellschaft. Die schickt junge Männer zum kämpfen, Ameisen schicken alte Damen."

Oben auf den Blättern reiten Angehörige einer weiteren Kaste mit, um die Trägerinnen vor Angriffen aus der Luft zu schützen; etwa vor parasitischen Fliegen, die ihre Eier in sie hineinlegen wollen. Am Nest angekommen, werden die Blattstückchen an Heimarbeiterinnen abgegeben, die alles weiter zerstückeln und an eine Kaste weiterreichen, die die Nahrung zu Brei zerkaut, auf dem der Pilz wächst.

"Der Pilz gehört zum Superorganismus", sagt Hölldobler. "Versucht man, Blattschneiderameisen im Labor ohne den Pilz zu halten, verhungern sie, auch wenn man ihnen sonst jede erdenkliche Nahrung anbietet." Im Inneren des Superorganismus kontrollieren winzige Pflegerinnen ständig, ob es dem wertvollen Gewächs gut geht; sie jäten Unkraut, indem sie Sporen und Hyphen fremder Arten entfernen, manche verwenden sogar eine Art Pestizid.

Wenn der Pilz Abwechslung auf dem Speiseplan wünscht, teilt er das den Pflegerinnen mit. Die Botschaft wird weitergegeben, bis sie bei den Futtersammlerinnen ankommt, die sofort zu einem anderen Baum krabbeln.

Wie alle Superorganismen haben auch die Blattschneiderameisen ein komplexes Kommunikationssystem, um ihre Arbeitsteilung zu regulieren. Sie legen Pheromon-Spuren, die zu Bäumen oder Sträuchern führen. Die chemische Substanz ist hochpotent.

Ein Milligramm einer Komponente des Fährtenstoffs der Art Atta vollenweideri würde genügen, um 60-mal eine Spur um die Erde herum zu legen. Außerdem trägt jede Kaste eine für sie spezifische, chemische Uniform, an der die Ameisen einander erkennen.

Ihre Anzahl wird ständig kontrolliert. In einem Experiment hat Edward Wilson einmal die Hälfte der großen Blattschneiderinnen entfernt: Der Superorganismus erkannte das Problem innerhalb kürzester Zeit und produzierte solange vermehrt Arbeiterinnen der fehlenden Kaste, bis das Verhältnis wieder stimmte.

Warnung vor der Invasion

Den Weberameisen billigt Hölldobler sogar so etwas wie eine "primitive Syntax" zu, auch wenn er die Kommunikation der Ameisen nicht mit der Sprache der Menschen vergleichen will. Um ihre Botschaften zu übermitteln, legen die Weberameisen eine Pheromonspur und kombinieren dieses Signal mit bestimmten Körperbewegungen.

Wenn zum Beispiel eine Arbeiterin fremde Ameisen entdeckt, legt sie eine Fährte von den Eindringlingen zu einem Kasernen-Nest am Rand der Kolonie, in dem Soldatinnen stationiert sind. Dort zeigt die Arbeiterin für den Bruchteil einer Sekunde ein symbolisches Drohverhalten.

"Das heißt: ,Lauft der Spur nach und kämpft! Da unten ist eine Invasion!", übersetzt Hölldobler. Kurz darauf kommt eine gewaltige Armee den Baum herunter, um den Superorganismus zu verteidigen.

Zwar ist die menschliche Sprache viel komplexer. Doch Sozialpsychologen haben herausgefunden, dass auch bei Menschen die schlichtere non-verbale Kommunikation eine zentrale Rolle spielt; auf dieser Kommunikationsebene schätzen sich Menschen innerhalb von Sekunden ein.

Ähnlich wie bei den Ameisen wird als Erstes geprüft, ob das Gegenüber freundlich oder feindlich gesinnt, überlegen, gleich stark oder unterlegen ist. "Im Zweifel vertrauen Menschen der nonverbalen Kommunikation deutlich mehr als der verbalen", sagt Scholl.

Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Superorganismus ist die Selbstaufgabe der einzelnen Arbeiterin, die sich um die Brut der Königin kümmert und dabei auf eigene Nachkommen verzichtet; oder der Soldatin, die bei Auseinandersetzungen ihr Leben opfert, um den Superorganismus zu verteidigen.

Wie derart altruistisches Verhalten im Laufe der Evolution entstehen konnte, ist eine der zentralen Fragen der Evolutionsbiologie. Auf den ersten Blick passt Selbstlosigkeit, die es auch beim Menschen gibt, nicht zu der Annahme der Evolutionstheorie, dass es das Ziel jedes Lebewesens ist, möglichst viele eigene Nachkommen zu produzieren.

Kampf um die Macht

Der erste Schritt zum Superorganismus war wahrscheinlich eine kleine Veränderung (Mutation) in den Genen, die zur Folge hatte, dass das Brutpflegeprogramm verfrüht angeschaltet wurde, obwohl die Tiere noch gar keine Eier gelegt hatten.

Mangels eigenen Nachwuchses halfen die fehlprogrammierten Ameisen bei der Aufzucht ihrer jüngeren Schwestern. Im Unterschied zum Superorganismus funktioniert das System in diesem Stadium, in dem sich auch heute noch viele Ameisenstaaten befinden, noch nicht perfekt.

Immer wieder kommt es vor, dass Arbeiterinnen versuchen, das System auszunutzen und den Brutpflegerinnen ihre eigenen Eier unterzujubeln. Wenn der Betrug entdeckt wird, wird er allerdings hart bestraft. Oft erkennen die Brutpflegerinnen die fremden Eier, weil sie anders riechen als die Eier der Königin und töten die fremde Brut. Die Betrügerin wird gebissen und herumgezerrt bis sie so gestresst ist, dass sie unfruchtbar wird.

Wenn die Kräfte der Königin in einem solchen Staat nachlassen, brechen sofort Machtkämpfe um ihre Nachfolge aus. "Die Arbeiterinnen, von denen 80 Prozent befruchtet sind, also das Potential zur neuen Herrscherin haben, verhauen sich gegenseitig mit den Antennen", sagt Hölldobler.

Beim Menschen ist das nicht anders: "Einer der größten Störfaktoren in Gruppen ist eine schwache Führungsperson", sagt Dieter Frey. Als Folge des Machtvakuums brächen unter den Gruppenmitgliedern Revierkämpfe aus, die viel Energie kosten und dadurch den Erfolg der ganzen Gruppe gefährden.

Besser als die Nachbarkolonie

In einem Superorganismus werden die Strukturen dagegen nicht mehr in Frage gestellt. Aufstände sind sinnlos; bei einigen Arten haben die Arbeiterinnen nicht einmal mehr Eierstöcke. Sie können ihr Interesse, möglichst viele Nachkommen zu produzieren, nur noch als Gruppe durchsetzen.

Die ausgeklügelten Mechanismen im Superorganismus sind wahrscheinlich entstanden, weil jedes Tier dieses Ziel am besten erreicht, wenn es seine Aufgabe, etwa die Pflege der Brut, immer mehr perfektioniert, also immer besser dem Gemeinwohl dient.

"In diesem Stadium ist die Konkurrenz zwischen verschiedenen Kolonien die treibende Selektionskraft", sagt Hölldobler. Gemeinsames Ziel ist es, mehr Geschlechtstiere zu produzieren als die Nachbarkolonie.

Typisch für Superorganismen ist daher auch eine große Aggressivität gegenüber fremden Kolonien. Kriege zwischen Weberameisen sind gnadenlos. Bei einer gängigen Kampfstrategie halten mehrere Ameisen einen ihrer Feinde fest, während andere mit ihren Zangen Teile des Körpers abtrennen.

Kalter Ameisenkrieg

Die Auseinandersetzungen fordern so viele Opfer, dass die Insekten jeglichen Kontakt zum Feind, der unweigerlich zum Krieg führt, möglichst vermeiden, indem sie zwischen ihren Territorien Korridore anlegen, die von beiden Seiten gemieden werden. Hölldobler nennt sie "no ants land", in Analogie zum Niemandsland zwischen den Fronten eines Menschenkrieges.

Eine andere Strategie hat der Superorganismus der Honigameisen entwickelt. Wenn zwei Kolonien aufeinandertreffen, schicken beide Seiten sogenannte Turnierarbeiterinnen in eine Art Arena. Sie tun nichts anderes als sich hinzustellen und Potenz zu demonstrieren.

Dazwischen wuseln kleinere Kolleginnen und "zählen" die Stärke des eigenen Heers und die des Gegners. "Wenn beide Kolonien etwa gleich mächtig sind, kann das tagelang so gehen, ohne dass etwas passiert", sagt Hölldobler. "Es ist wie im Kalten Krieg, als Gefechtsköpfe und Raketen gezählt wurden."

Ist eine Kolonie schwächer, verschiebt sich das Turnier immer weiter in Richtung des Nests der unterlegenen Partei. Im Extremfall kommt es zu einem Raubzug der Stärkeren.

Sie dringen in das fremde Nest ein, bringen die Königin um und schleppen die Puppen heraus. Die jungen Arbeiterinnen, die daraus schlüpfen, müssen den Rest ihres Lebens für den fremden Superorganismus arbeiten. "Man kann das auch Sklaverei nennen", sagt Hölldobler.

© SZ vom 06.06.2009/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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