Ordnung im Chaos:Im Sog der Masse

Das Gedränge in Menschenmengen wirkt wie das pure Chaos. Doch die Massen folgen geheimen Spuren und Mustern. Wer sie kennt, kommt schneller voran.

Philipp Crone

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Schildergasse Köln

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In der Kölner Schildergasse, dem belebtesten Ort Deutschlands, herrscht samstags scheinbar das reine Chaos. Bis zu 17.500 Menschen kommen dort in einer Stunde vorbei. Auf der Zeil in Frankfurt und in der Münchner Kaufingerstraße sind es 14.500. Was zufällig und ungeordnet aussieht, folgt jedoch klaren Mustern. Wer sie kennt, kommt im Gedränge schneller voran.

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Spuren im Schnee

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Den Spuren folgen

Zwischen zwei Ständen auf dem überfüllten Marienplatz in München ist ein etwa drei Meter breiter Korridor. Die Leute bewegen sich nicht einzeln durch, sondern in Reihen hintereinander, wie auf einer mehrspurigen Straße. Von "Lanes", vergleichbar Fahrspuren, spricht Anders Johannson vom Soziologie-Institut an der ETH in Zürich. Wer in eine Richtung will, schließt sich jenen an, die sich bereits dorthin bewegen. "Es ist einfacher, jemandem zu folgen, als voran zu gehen." Das sei wie bei einem Fußmarsch durch den Schnee - der Erste muss sich den Weg bahnen, die anderen wählen den Weg des verringerten Widerstands.

Der Abstand zum Vordermann wird dabei so gewählt, dass er klein genug ist, damit andere Fußgänger nicht einfach von der Seite die Spur durchbrechen. "Dabei wird jedoch so viel Abstand zum Vordermann gelassen, dass jeder einzelne den Boden noch sieht", sagt Michael Schreckenberg, Professor für Physik von Transport und Verkehr an der Universität Duisburg-Essen. "Sonst fühlen sich die Leute unwohl, weil sie fürchten, über Unebenheiten zu stolpern."

(Foto: dpa)

Japan Verkehr

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Links- und Rechtsgeher

Je breiter der verfügbare Gehweg ist, desto mehr Spuren bilden sich - und zwar auf der Seite, auf der die Menschen auch Auto fahren. Der Europäer wählt automatisch die rechte Spur, in Japan (Foto), wo die Autos links fahren, wird auch links gegangen. Wenn diese beiden Geh-Kulturen zusammentreffen, könne es schwierig werden, sagt Schreckenberg. "Bei der Fußball-WM 2006 sind sich in Dortmund deutsche Passanten und japanische Fans in einer Unterführung begegnet. Obwohl der Durchgang breit genug war, kamen die Gruppen kaum aneinander vorbei."

(Foto: AP)

Passant

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Wer schaut, muss ausweichen

In jeder bevölkerten Fußgängerzone gibt es Passanten, die voranschreiten, ohne andere zu beachten, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Diese Fußgänger scheinen niemanden wahrzunehmen - dennoch müssen sie kaum ausweichen. "Andere nehmen unterbewusst wahr, dass der Entgegenkommende nicht auf seine Umgebung achtet und weichen dann selbst aus", sagt Johannson. Wer die anderen weniger beachtet, ist schneller. "Wenn beide den jeweils anderen wahrnehmen, kann man oft beobachten, dass jeder ausweicht, und meist in die gleiche Richtung." Das dauere länger, da man auf die Signale des Gegenüber reagiert, sagt Johannson.

Bernhard Schlag, Verkehrspsychologe an der Universität Dresden, beschreibt die Wahrnehmung einzelner Verkehrsteilnehmer als "Haarschlauch", eine Art längliche Blase. "Man nimmt sich im Auto oder zu Fuß nicht als einen Punkt war, sondern als ein in die Bewegungsrichtung erweitertes Ich." Dringt jemand in die Blase ein, wird er zunächst unterbewusst wahrgenommen. Die erste Reaktion ist ein geringfügiges Ausweichen, sagt Schlag. "Das kostet am wenigsten Energie und passiert reflexartig." Ist man danach noch immer auf Kollisionskurs, wird gebremst. "Erst jetzt wird einem die Situation wirklich bewusst." Die letzte Ebene ist die verbale. Mit einer Geste oder einem "Entschuldigung" wird die Situation gelöst, falls man tatsächlich aneinandergestoßen ist.

(Foto: dpa)

Flugzeug Gangway

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Erst nachmachen, dann nachdenken

Menschen in Gruppen nutzen die Körpersignale anderer für sich selbst. Zum Beispiel nach dem Verlassen eines Flugzeugs. Wer nicht weiß, wohin es weitergeht, zögert bei der Wahl der Gehrichtung, sagt der Verhaltensökologe Jens Krause aus Berlin. "Wer sich auskennt, läuft hingegen direkt los. Dieses Muster wird von den Umstehenden unbewusst erkannt, und sie folgen automatisch den Menschen, die aufgrund ihrer zielgerichteten Bewegung mehr Informationen zu haben scheinen." Wie so oft, wenn Menschen sich in Massen bewegen, gilt hier: Kopieren geht vor kapieren. "Zunächst ahmt man ein beobachtetes Verhalten nach, bevor man es reflektiert", sagt Krause. Das spart Energie. Warten mehrere Menschen an einer roten Ampel und einer geht verfrüht los, folgen oft andere instinktiv, bevor sie sich mit einem Blick auf die Ampel vergewissern. "Reflexartiges Folgen" nennt es die Wissenschaft.

(Foto: AP)

Menschenmenge

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Andere Länder, anderes Tempo

Wer anderen folgt, passt sich der Geschwindigkeit seines Vordermanns an. Die ist allerdings nicht in allen Ländern gleich, wie Richard Wiseman von der Universität Hertfortshire beobachtet hat. Demnach trifft man die mit 1,7 Metern pro Sekunde schnellsten Fußgänger in Singapur, in der Stadt Blantyre in Malawi gehen sie am langsamsten - mit nur 0,6 Metern pro Sekunde. Berlin liegt mit 1,6 Metern in einer Sekunde auf dem siebten Platz. Zudem beobachtete Wiseman, dass sich die Geh-Geschwindigkeit in den vergangenen Jahrzehnten weltweit erhöht hat - durchschnittlich um zehn Prozent seit 1994.

(Foto: AFP)

Ameisen

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Vorbild Ameise

"In einer vollen Fußgängerzone ist im Prinzip permanent Stau", sagt Schreckenberg. Schuld daran sei die mangelnde Fähigkeit des Menschen, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, etwa kommunizieren und sich orientieren. "Wer einen Anruf auf das Handy bekommt, bleibt oft stehen, wer sich unterhält ebenfalls." Das stört den Fluss. Autofahrer kennen das: So mancher, der sich verfährt, schaltet das Radio aus. Staus entstehen auch deshalb, weil der Mensch nur auf das achtet, was vor ihm liegt, sagt Schreckenberg. "Wer zum Beispiel in eine Straßenbahn einsteigt, bleibt oft an der Türschwelle stehen, um sich nach einem Platz umzusehen." Auf Fahrgäste hinter ihnen achten die wenigsten Menschen. Um aus einem Stau wieder herauszukommen, suchen die Menschen ihre Umgebung nach Bewegung ab. "Das ist wie bei einem Live-Konzert, wenn die Menschen schon sehr dicht stehen", sagt Schreckenberg. "Wer dann noch weit nach vorne will, geht zu den Stellen, an denen sich andere noch bewegen."

Dass es auch ganz ohne Stau geht, zeigen Ameisen. Andreas Schadschneider vom Institut für theoretische Physik in Köln hat Ameisenstraßen auf ihre Stauanfälligkeit getestet. Die Tiere überholen nicht, sondern passen sich der langsameren Vorgängerin an. Und wenn eine Ameise stehen bleibt, schert sie zuvor zur Seite aus.

(Foto: AP)

Fahrstuhl, dpa

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Stumm im Stau

Enge ist befremdlich. Je dichter Menschen zusammenstehen, desto schweigsamer werden sie. Bekannt ist dieses Phänomen aus Aufzügen und vollen U-Bahnen. Ist genug Platz, unterhalten sich die Menschen. Wird es richtig eng, verstummen sie.

"Wenn man merkt, dass man nicht ausweichen kann und gefangen ist, fühlt man sich bedroht", sagt Schreckenberg. Das Verstummen sei dann eine ähnliche Reaktion wie die eines Tieres, sich in ausweglosen Momenten tot zu stellen. Man bewegt sich nicht und schweigt. So reagiert man, wenn einem jemand näher als einen halben Meter kommt, sagt Schlag.

(Foto: dpa)

Kreisverkehr

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Schneller dank Hindernissen

Anhand von Computersimulationen und Studien mit Probanden hat eine Forschergruppe um Dirk Helbing von der ETH in Zürich beobachtet, dass ein Hindernis - zum Beispiel eine kleine Säule in der Mitte eines Platzes - die Fließgeschwindigkeit von Menschenmassen beschleunigt, obwohl es eigentlich Raum wegnimmt.

Die Säule gibt Gehspuren rechts und links von ihr vor und verstärkt zudem eine kreisförmige Bewegung, in der weniger Staus entstehen, entdeckten die Forscher.

(Foto: dpa)

Oxford Street London

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Gehen in Zukunft

Sofern Fußgänger in den kommenden Jahren weiter ihre Geschwindigkeit erhöhen, wie Richard Wiseman beobachtet, werden dann bauliche Geh-Spuren und Verkehrssysteme nötig? Ein Forderung dieser Art gab es schon vor einigen Jahren in London: Auf der Einkaufsstraße Oxford Street (Foto), die pro Jahr von mehr als 200 Millionen Menschen beschritten wird, hatten sich Ladenbesitzer über zu langsame Fußgänger beschwert, die sich zur Weihnachtszeit mit weniger als einem halben Meter pro Sekunde fortbewegten. Das störe die Harmonie auf dem Bürgersteig, da andere Passanten möglichst schnell an ihr Ziel kommen wollen, argumentierten die Geschäftsleute. Sie forderten deshalb einen separat abgetrennten Schnellweg und sogar ein Bußgeld für langsame Passanten. Eine vielleicht beispielhafte Lösung ist für die Olympiastadt von 2012 nun gefunden worden: Die Straßen um den Oxford Circus werden umgebaut. Im November werden die Autofahrbahnen schmaler und die Bürgersteige breiter sein.

(Foto: AP)

(SZ vom 27.05.2009/gal/beu)

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