Das Leben besteht aus einer langen Reihe von Irrtümern. Man bildet sich ein, man kenne sich in ein paar halbwegs wichtigen Dingen des Daseins aus. Man lebt in der Überzeugung, man kenne die eigenen Stärken und Schwächen. Und man existiert in der Illusion, eines Tages jene Tätigkeit zu entdecken, die einen nicht nur erfüllt, sondern einem voll und ganz entspricht, wie das in der watteweichen Wellness-Sprache heutzutage ausgedrückt wird.
Aber das ist alles Quatsch. Wie so oft tritt die Wissenschaft in der Rolle des Spielverderbers auf. Diesmal sind es die Psychologen Robert Arkin und Jean Guerrettaz von der Ohio State University in Columbus, die eine schmerzhafte Botschaft überbringen: Die Menschen kennen sich selbst extrem schlecht. Sie haben keine rechte Ahnung, mit wem sie es da ihr ganzes Leben zu tun haben.
Und wer übrigens einen dieser selbstgewissen Typen verunsichern will, der sollte ihnen konkrete Fragen zum eigenen Selbst stellen. Dann nämlich bricht sein Selbstbild wenigstens kurzzeitig zusammen, und er merkt für einen Moment, dass er sich selbst nur sehr vage einschätzen kann, berichten die Psychologen im Fachblatt Self and Identity.
Probanden scheitern an Beispielen über sich selbst
Der alte Benjamin Franklin, Naturwissenschaftler, Erfinder und einer der Gründerväter der USA, fasste es einst prägnant zusammen. Drei Dinge in dieser Welt seien extrem hart, ätzte er: Stahl, Diamanten und Selbsterkenntnis.
Das merkten nun auch die Probanden von Robert Arkin und Jean Guerrettaz. Die Teilnehmer schätzten zunächst in einem Test ein, wie genau sie sich selbst kennen. Dann baten die Wissenschaftler sie, zehn Eigenschaften anzugeben, die ihre Persönlichkeit ausmachten, und diese zu gewichten. Schließlich folgte der letzte Schritt des Experimentes: Zu den Charaktereigenschaften, die die Probanden besonders wichtig und hervorstechend fanden, sollten sie konkrete Beispiele aus ihrer Biografie nennen, um diese zu belegen.
Hier scheiterten die meisten, auch jene, die zuvor mit Überzeugung getönt hatten, sie seien sich im Klaren über ihr Wesen und ihr Selbst. Gerade diese Teilnehmer zeigten anschließend ein erheblich erschüttertes Selbstbewusstsein.
Beinahe jeder Angestellte glaubt, er leiste mehr als die anderen
Ein paar Fragebögen und paar lästige Nachfragen - reicht das aus, um die Selbstkenntnis der meisten Menschen als Illusion zu bezeichnen? Nein, das alleine wohl nicht, aber die Arbeit aus Ohio passt zu den vielen Studien mit insgesamt mehr als 200 000 Teilnehmern, die kürzlich von den Psychologen Ethan Zell und Zlatan Krizan ausgewertet und im Fachblatt Perspectives on Psychological Science zusammengefasst wurden. Die Forschungsliteratur also belegt deutlich: Die meisten Menschen liegen weit daneben, wenn sie ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen sollen. Sie halten sich für besser, als sie tatsächlich sind; oder sie trauen sich weniger zu, als sie tatsächlich können.
Offenbar besteht die Menschheit weitgehend aus Hoch- oder Tiefstaplern, die schräge Ansichten kundtun, wenn auch meist ohne böse Absicht. Das trifft natürlich auch im Berufsleben zu, wie Zell und Krizan in ihrer Zusammenfassung anführten. So überschätzen angehende Ärzte offenbar chronisch, welchen Einfluss sie mit ihrer Heilkunst auf die Genesung ihrer Patienten nehmen können. Selbstüberschätzung ist natürlich kein Privileg der Ärzteschaft. Fast jeder Angestellte ist der Meinung, dass er mehr leiste als die meisten anderen Kollegen in der Abteilung. Und die extremsten Beispiele schmerzhafter Selbstüberschätzung tauchen regelmäßig im Fernsehen auf: die schrägen Teilnehmer bei Castingshows, derentwegen man sich zu Hause auf dem Sofa vor Fremdscham windet.