Angeblich leben wir in einer Wissensgesellschaft. Vor die Wahl gestellt, entscheiden sich jedoch viele Menschen für Unwissenheit. Etwa der Molekularbiologe James Watson, einer der Entdecker der DNA. Als der Wissenschaftler sein eigenes Genom sequenzieren ließ, bestand er darauf, wesentliche Details nicht zu erfahren.
So weigerte er sich zu hören, wie es um seine genetische Veranlagung für Alzheimer bestellt sei. Ausgerechnet Watson, einer der Begründer der modernen Genetik, lehnte mithilfe dieser Disziplin gewonnene Erkenntnis ab. Aber was sollte er mit dem Wissen auch anfangen, womöglich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Demenzpatient zu sterben? Es wäre der ultimative Spoiler, der den Rest seines Lebens verderben würde.
"Der Wunsch nach Nichtwissen ist erstaunlich weit verbreitet"
Watson ist nicht allein. So wie der Nobelpreisträger ziehen es auch die meisten Normalbürger vor, über künftige Ereignisse im Unklaren zu bleiben. "Der Wunsch nach Nichtwissen ist erstaunlich weit verbreitet", sagt Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Für eine Studie im Fachblatt Psychological Review hat der Psychologe mehr als 2000 Probanden mit hypothetischen Zukunftsfragen konfrontiert. Zum Beispiel: "Würden Sie wissen wollen, wann Ihr Partner sterben wird?" Nur vier Prozent der Befragten antworteten mit Ja. Vergleichbar wenige wollten ihren eigenen Todeszeitpunkt erfahren oder wissen, ob ihre Ehe scheitern würde.
Besonders ausgeprägt war der Wunsch nach Nichtwissen bei negativen Lebensereignissen. Doch auch im Falle positiver Begebenheiten zogen viele Unklarheit vor. So wollten nur 43 Prozent der Befragten das Geschlecht eines ungeborenen Kindes erfahren, und knapp 57 Prozent bevorzugten Unkenntnis darüber, ob ein Leben nach dem Tod existiere. Positive Wendungen im Voraus zu erfahren, mindert die Freude daran. Wer den Ausgang eines Fußballspiels kennt, hat weniger Freude an einer aufgezeichneten Partie. Negative Wendungen antizipieren zu können birgt zudem ein hohes Risiko: Ist das Scheitern einer Beziehung schon im Vorfeld gewiss, ist unbeschwertes Glück unmöglich.
Ermitteln mit "Predictive Policing"-Algorithmen:Polizei-Software soll Verbrechen voraussagen
Klingt wie "Minority Report": Algorithmen sehen Einbrüche vorher, intelligente Kameras erkennen Terroristen in der Menge. Mit Predictive-Policing-Technik versuchen Ermittler, Verbrechen vorherzusagen. Aktivisten und Datenschützer fürchten neue Kontrollmechanismen.
"Die Menschen haben Angst vor vorauseilendem Bedauern"
Insbesondere risikoscheue Menschen pochten in der Studie auf ein Recht auf Nichtwissen. "Die Menschen haben Angst vor vorauseilendem Bedauern", sagt Gigerenzer. Und je älter die Befragten, desto größer ihre Präferenz für freiwillige Ignoranz. Nur eine Gruppe stach heraus: Religiöse Menschen legten im Vergleich den größten Wert darauf, alles zu erfahren. Regelmäßigen Kirchgängern macht das eigene Schicksal offenbar weniger Angst.
Seit jeher kämpft die Menschheit darum, Ungewissheiten zu reduzieren. Dennoch gilt: Ungewissheit ist die Würze des Lebens, die allerdings stetig zurückgedrängt wird. Patienten sind aufgerufen, persönliche Krankheitsrisiken quantifizieren zu lassen, oder sollen auch ohne Beschwerden Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen. Auch hinter dem Begriff "Big Data" steht das Versprechen, präzise Vorhersagen über künftige Ereignisse treffen zu können.
Dem gegenüber steht das Bedürfnis nach Nichtwissen, das in uns schlummert. Auch eine Wissensgesellschaft sollte ein Recht darauf verteidigen. Anders gesagt: Liebe ohne Ungewissheit kann es nicht geben.