Physik:So schwer ist die Schwerkraft

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Völlig losgelöst von der Schwerkraft, das ist eine ungewöhnliche Alltagserfahrung, die sich allenfalls in einem Experimentalflugzeug erleben lässt. (Foto: dpa)

Eigentlich ist seit Galileo Galilei und Isaak Newton alles bekannt über die Gravitation und ihre Gesetze. Was also gibt es da im 21. Jahrhundert noch zu tüfteln? Eine Menge, stellen Physiker fest. Mit jeder neuen Messung steigt ihre Verwirrung.

Von Patrick Illinger

Alle Körper sind gleich - zumindest vor den Gesetzen der Schwerkraft. Ob aus Blei, Holz oder Fleisch und Blut, alles wird mit gleicher Kraft von der Erde angezogen. Zu dieser grundlegenden Erkenntnis über das Wesen der Gravitation kam vor 350 Jahren Galileo Galilei, als er verschiedene Dinge "von einem hohen Turm" warf - womöglich war es sogar der schiefe Turm von Pisa - und die Zeitspanne maß, bis die Objekte am Boden aufschlugen.

Heute wird die Gleichheit der Gravitation in Schulexperimenten veranschaulicht, indem der Lehrer in einem luftleeren Glaskolben eine Feder und eine Bleikugel fallen lässt und diese mit gleicher Beschleunigung hinabsausen. Mit Experimenten im Weltraum wurde zudem die sogenannte Gleichheit von schwerer und träger Masse mit einer Genauigkeit von 0,00000000000001 Prozent bewiesen.

Einige Jahre nach Galilei war es Isaak Newton, der die Gravitation als mathematisches Gesetz formulierte. Demnach steigt die gegenseitige Anziehungskraft zweier Körper mit deren Massen und nimmt quadratisch mit dem Abstand ab. Das Ganze muss dann nur noch mit einer Naturkonstante multipliziert werden, der Gravitationskonstante - ein von der Natur vorgegebener Wert wie die Lichtgeschwindigkeit oder die elektrische Ladung des Elektrons. Mit diesem Gesetz der Schwerkraft war plötzlich eine unendliche Fülle von Phänomenen erklärbar, vom fallenden Apfel bis zur Bahn des Mondes.

Heute, 327 Jahre nach der Veröffentlichung von Newtons "Mathematischen Prinzipien" sollte man meinen, Physiker hätten Besseres zu tun, als die Schwerkraft zu erforschen. Hat die moderne Physik nicht längst alle alltagsnahen und intuitiv begreifbaren Probleme hinter sich gelassen, um mit Teilchenbeschleunigern und Supercomputern entrückte Themen wie Supersymmetrie und Quantenteleportation zu bearbeiten?

Nein. Weit gefehlt.

Newtons Gravitationsgesetz und speziell die darin enthaltene Gravitationskonstante bereitet Physikern heute mehr Kopfzerbrechen denn je. Und das, obwohl Albert Einstein die Gleichungen Newtons bereits vor 100 Jahren in einen viel größeren Zusammenhang eingebettet hat. In der Allgemeinen Relativitätstheorie ziehen sich Massen nicht mehr nur an, sie krümmen und biegen Raum und Zeit, sodass die Schwerkraft sich als logische Folge eines mit Schlaglöchern und Trichtern verbeulten Universums darstellt. Von Newton scheint da auf den ersten Blick nicht mehr viel übrig zu sein.

Tatsächlich jedoch steckt auch in den Feldgleichungen von Albert Einstein die ominöse Gravitationskonstante aus Newtons Gesetz. Und genau hier tut sich ein mächtiges Problem auf: Seit Jahrzehnten versuchen Physiker vergeblich, die für die Dynamik des gesamten Universums zuständige Gravitationskonstante mit befriedigender Genauigkeit zu messen. Doch das will partout nicht gelingen, jede neue Messung steigert nur die Verwirrung. Erst vor einigen Tagen hat eine Physikergruppe um Terry Quinn und Harold Parks vom Internationalen Standardisierungsbüro bei Paris eine Messung veröffentlicht, die einen deutlich höheren Wert für G liefert als Dutzende andere Experimente der vergangenen Jahre ( Physical Review Letters, 101102, Bd. 111, 2013).

Das große "G" in Newtons und Einsteins Gleichungen ist die am wenigsten genau bestimmte Naturkonstante überhaupt. Manche Forscher beginnen bereits zu fragen, ob die Konstante womöglich gar nicht konstant ist, sondern je nach Ort und Zeit variiert. Zeigen sich hier womöglich Spuren der von Astrophysikern vermuteten Dunklen Energie, die das gesamte Universum wie einen Hefekuchen aufbläht? Oder treibt eine noch unbekannte fünfte Urkraft ihr Unwesen? Eher nicht, sagen die meisten Physiker, viel wahrscheinlicher sei, dass auch in Zeiten von Atomuhren und Präzisionslasern bei der Messung der Gravitationskonstante Fehler und Ungenauigkeiten hineinspielen.

Die erste ernsthafte Messung der Gravitationskonstante unternahm 1798 der britische Physiker Henry Cavendish. Er benutzte eine kleine, an einem dünnen Draht aufgehängte Hantel. Schiebt man zwei größere Massen - bei Cavendish waren es 158 Kilogramm schwere Bleikugeln - seitlich an die beiden Enden der Hantel, so dreht diese sich ein wenig, wegen der Anziehungskraft der Gewichte. Diese Drehung lässt sich messen, indem ein kleiner Spiegel, der sich mitdreht, einen Lichtstrahl ablenkt.

Die Schwerkraft ist schwach

Die meisten Physiker verwenden noch heute, wenngleich in hoch technisierter Form, den von Cavendish erdachten Aufbau. Tatsächlich lag Cavendishs Wert für die Gravitationskonstante nur ein Prozent über den heute ermittelten Werten. Erstaunlich ist, dass moderne Messungen noch immer zum Teil um mehr als 0,2 Promille voneinander abweichen. Wohlgemerkt: unter Zuhilfenahme heute verfügbarer Technik, während Cavendish Kerzen für seinen Lichtstrahl verwendete.

Der Hauptgrund hierfür ist, dass die Schwerkraft im Vergleich zu den drei anderen bekannten Naturkräften, dem Elektromagnetismus und den beiden Kernkräften, enorm schwach ist. So genügt ein geriebener, elektrostatisch aufgeladener Plastikstab, um kleine Gegenstände aufzuheben, obwohl der ganze Erdball mit seiner Schwerkraft dem entgegenwirkt. Und wenn zwei Wasserstoff-Atomkerne zusammentreffen, ist deren elektrostatische Abstoßung 10 hoch 36 Mal so groß wie die Anziehung aufgrund der Gravitation.

Aus diesen Gründen ist jede Laboranordnung, die das Wirken der Schwerkraft untersuchen soll, von unzählbaren Störfaktoren beeinflusst. Ein schlecht isoliertes Stromkabel, ein Husten, eine leichte Variation des Erdmagnetfelds. All das kann Messungen verfälschen, bei denen es um Verschiebungen im Bereich von Millionstel Millimetern geht.

Hinrich Meyer, ein mittlerweile emeritierter Professor der Universität Wuppertal, misst die Gravitationskonstante seit mehr als 30 Jahren. Heute arbeitet er mit einer Apparatur am deutschen Teilchenforschungslabor Desy in Hamburg. Im Schatten der riesigen Beschleuniger untersucht er eine Anordnung von Pendeln, die mithilfe der Anziehungskraft zweier großer Metallkörper ein wenig aus ihrem Gleichgewicht gezogen werden. Die zu messende Auslenkung liegt in der Größenordnung eines Atomdurchmessers.

Die Sache sei "unglaublich schwierig in ihren Details", versichert Meyer. Es gebe bei diesen Experimenten unvorstellbar viele Größen, die genau bestimmt werden müssen, enorm viele Fehlerquellen, weshalb er Zweifel hegt an der geringen statistischen Unsicherheit, die seine Kollegen Quinn und Parks in ihrer Publikation angeben.

Die beiden wiederum halten es für wahrscheinlich, dass alle anderen Messungen der vergangenen Jahrzehnte fehlerhaft waren und ihr Wert der Wahrheit am nächsten kommt. Sie verweisen darauf, bereits 2001 auf einen ähnlichen Wert gekommen zu sein. Ihr seither runderneuerter Versuchsaufbau habe diese Messung nun reproduziert. Selbstzweifel angesichts der offensichtlich inkompatiblen Daten sind jedenfalls unter Physikern dieser Teildisziplin gering ausgeprägt. So war Quinns Partner Harold Parks in der Vergangenheit an einer Messung beteiligt, die einen deutlich geringeren Wert von G ergab, als es seine aktuelle Arbeit besagt. Doch das verschweigt er in der neuen Publikation.

Sicher ist nur, dass ein 2010 vom zuständigen internationalen Committee on Data for Science and Technology in Paris vorgeschlagener Mittelwert für die Gravitationskonstante - 6,67384×10 hoch -11 - kaum haltbar sein dürfte. Quinn und Parks liegen mit ihrer neuen Messung mehr als 0,24 Promille darüber. Ein Experiment aus dem Jahr 2010 mit ähnlichem Abstand darunter. Newton und Cavendish hätten an dieser Entwicklung zweifellos großen Spaß.

© SZ vom 21.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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