Ökologie:Rückkehr der Wächter

Lesezeit: 3 min

Die Offshore-Windparks bei der deutschen Insel Borkum könnten ein Teststandort für die Ansiedlung der Europäischen Auster sein. (Foto: Ingo Wagner/dpa)

Die Menschen hatten fast schon vergessen, dass in der Nordsee einst die Europäische Auster lebte. Jetzt versuchen deutsche Forscher, die Muscheln wieder anzusiedeln. Ein mühsames Unterfangen - und nicht ohne Risiko.

Von Kathrin Zinkant

Es gibt den Zeitpunkt, an dem eine ausgestorbene Art nicht mehr vermisst wird. Ganz egal, wie bedeutsam die verlorene Spezies für die anderen Bewohner des jeweiligen Ökosystems einmal gewesen sein mag. Ganz egal, wie wichtig sie für die Zukunft der Biosphäre sein könnte: Aus den Augen, aus dem Sinn - so ließe sich auch die Geschichte der Europäischen Auster im Norden Europas zusammenfassen. Nach vielen Jahrzehnten der Überfischung und Epidemien sind die großen Muscheln nicht nur zum Patienten der kommerziellen Austernkultivierung geworden. Ihre natürlich gebildeten Austernbänke sind als Nahrungsquelle und als Lebensraum für viele Meeresbewohner fast vollständig aus der freien Wildbahn verschwunden.

Doch ein Team von Meeresforschern vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven vermisst die Auster sehr wohl. Gemeinsam mit dem Bundesamt für Naturschutz wollen die Wissenschaftler Ostrea edulis als wilden Bewohner wieder in der Nordsee ansiedeln. Genauer: in der Deutschen Bucht. Und mal nicht zum Essen, sondern als jene Ökowächter, die diese Muscheln in den vergangenen Zehntausenden Jahren für das Leben in diesem Schelfmeer des Atlantiks gewesen sind. "Austernriffe sind Hotspots der biologischen Vielfalt, die eine wichtige Rolle im Ökosystem des Meeres spielen", so hat es BfN-Präsidentin Beate Jessel zum Startschuss des Projekts erklärt. Demnach soll die Auster mit ihren sich auftürmenden Schalen vielen kleinen und großen Organismen Schutz und Wohnraum bieten - und mit der mächtigen Filterleistung ihrer Kiemen das Wasser klar und sauber halten. Immerhin befördert eine Auster bis zu 240 Liter am Tag durch das feine Gewebe ihrer Atemorgane.

Fremde Algen, Bakterien und Viren können am neuen Standort die Arten gefährden

Doch so einleuchtend die Idee auch erscheint: Eine alte Spezies wie die Auster wieder dorthin zurückzubringen, wo sie seit Jahrzehnten gar nicht mehr gewesen ist, wird alles andere als trivial sein. Die Leiterin des Projekts Restore am Alfred-Wegener-Institut, Bernadette Pogoda, hat jedenfalls eine Menge Fragen zu klären, bevor es wirklich losgehen kann mit einer Wiederauswilderung der Auster. Da ist zunächst die Frage nach dem Tier selbst. Zwar gibt es im Mittelmeer und auch in einigen nördlicheren Gewässern Europas noch einige mehr oder wenige natürliche Bestände. "Aber nicht jede Europäische Auster ist für unser Vorhaben geeignet", erklärt die Biologin. Während einige der Vorkommen aufgrund ihrer Bedrohung für das Projekt ohnehin nicht angetastet werden dürfen, müssen die Forscher vor allem im Auge behalten, dass mit einer Auster nicht nur die Auster umzieht. "Studien zeigen, dass gerade Muscheln, die in Bänken oder Riffen organisiert sind, von zahlreichen Mikroorganismen besiedelt sind. Dazu gehören winzige Algen, Bakterien und auch Viren, die in ihrer angestammten Umgebung womöglich gar keine Probleme machen. Die sich aber am neuen Standort der Auster explosionsartig ausbreiten und andere Arten gefährden könnten. "Bei Tieren aus einem fremden Wasserkörper ist eine solche Bioinvasion nicht ausgeschlossen", sagt Pogoda. Austern aus dem Mittelmeer kämen für die Nordsee deshalb gleich gar nicht infrage.

Um böse Überraschungen mit Austern auch aus näher benachbarten Beständen zu vermeiden, testen die Forscher auf Helgoland seit Mai nun Kulturaustern aus Zuchtstationen. Sie werden dort in Käfigen gehalten, bis das Team über andere Fragen entschieden hat - zum Beispiel darüber, in welcher Besatzdichte die Tiere angesiedelt werden sollten, um Massensterben wie in den Kulturen zu vermeiden. Und an welchem Standort man es am besten versucht. Aber auch das ist knifflig. Die Europäische Auster lebt am Meeresboden und der ist in der Nordsee vielerorts sehr "dynamisch", wie Bernadette Pogoda sagt. Zudem müssen die zahlreichen Verkehrsstraßen der Deutschen Bucht in Betracht gezogen werden. Als einen der drei Teststandorte haben die Forscher derzeit die Offshore-Windparks des Borkumer Riffgrunds ins Auge gefasst, die gut 40 Kilometer vor der ostfriesischen Insel gebaut wurden und zunehmend erweitert werden.

Immerhin können die Bremerhavener auf die Erfahrung internationaler Kollegen zurückgreifen. Weltweit gibt es schon eine Vielzahl von Austernbank-Projekten wie Restore, insbesondere mit der amerikanischen Ozeanografie-Behörde NOAA arbeiten Pogoda und ihre Kollegen zusammen. Falls das Experiment gelingt und die Auster sich zumindest an einem der Standorte bis zum Projektende 2024 häuslich eingerichtet hat, bleibt nur noch zu hoffen, dass die Tiere dauerhaft überleben können. Vor allem das aus erodierten Kunststoffen stammende, allgegenwärtige Mikroplastik im Meereswasser kann den Erfolg rasch wieder zunichte machen: Studien haben gezeigt, dass die Partikel die Austern zwar nicht direkt töten. Sie schränken aber ihre Fortpflanzungsfähigkeit massiv ein. Ist der Effekt groß genug, können die Austernbänke nicht wachsen - und womöglich würden sie dann auch wieder ganz verschwinden. Dieses Mal womöglich für immer.

© SZ vom 16.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: