Neurologie:Späte Selbstheilung bei Koma-Patienten

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Nervenzellen-Verbindungen im Gehirn können sich lange nach einer Verletzung wieder erneuern. Ärzte und Pfleger sollten deshalb nie aufhören, nach Verbesserungen im Zustand der Patienten Ausschau zu halten.

Susanne Schäfer

Mit 19 Jahren verunglückte Terry Wallis mit seinem Auto und erlitt schwere Hirnverletzungen, die nächsten 19 Jahre seines Lebens lag er im Koma. Als er im Jahr 2003 aus dem so genannten Minimalen Bewusstseinszustand (MCS) erwachte, lernte er wieder zu sprechen und sich ein wenig zu bewegen.

Eine erstaunliche Entwicklung, denn Forscher stimmen weit gehend darin überein, dass sich das Gehirn nur in den ersten Monaten nach einer Verletzung erholen kann. MCS-Patienten wirken wach - sie haben zum Beispiel die Augen geöffnet und reagieren auf Geräusche -, sind aber nicht bei Bewusstsein.

Wie es zu Wallis' Erwachen und seinen überraschenden Fortschritten kam, wollten Physiker und Ärzte aus den USA und Neuseeland wissen. Sie schauten seine Hirnstrukturen mit einem Verfahren namens Diffusion Tensor Imaging an.

Zudem verglichen sie das Gehirn ihres außergewöhnlichen Patienten mit dem eines MCS-Patienten, dessen Zustand sich seit sechs Jahren nicht verändert hat (Journal of Clinical Investigation, Bd.116, S.2005, 2006).

Neue Nervenzellen nach 19 Jahren Koma

Dabei fanden sie heraus, dass der Stoffwechsel der "weißen Substanz" in Wallis' Gehirn stärker angeregt war als bei dem Patienten, der sich noch im minimalen Bewusstseinszustand befindet. Die "weiße Substanz" sind die Nervenfasern, die Zellen im Gehirn miteinander verbinden. Die Wissenschaftler folgern, dass die Nervenzellen in Wallis' Gehirn ihre Verbindungen teilweise wieder aufgebaut haben.

"Grundsätzlich ist es ein normaler Vorgang, dass Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn sich immer wieder selbst erneuern", sagt Peter Bülau, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurologische Rehabilitation. So können gesunde Bereiche des Hirns die Funktionen von geschädigten Teilen lernen und diese womöglich ersetzen.

Dank dieser Plastizität des Gehirns können etwa Schlaganfall-Patienten wieder sprechen lernen. "Warum das Gehirn eines MCS-Patienten aber nach so langer Zeit neue Nervenfasern ausbildet, können wir beim aktuellen Forschungsstand noch nicht erklären", sagt Bülau.

Mehr Aufmerksamkeit für langjährige Komapatienten

Wie lange sich ein Komapatient noch erholen kann, hängt davon ab, ob einzelne Teile des Gehirns verletzt sind oder ob die Schädigung diffus ist, etwa weil das ganze Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde.

Wenn nur einzelne Bereiche beschädigt sind wie beim MCS-Patienten Wallis, können die gesunden Teile des Gehirns Funktionen der beschädigten Bereiche übernehmen. "Wir gehen normalerweise davon aus, dass eine Regeneration sehr unwahrscheinlich wird, wenn sich innerhalb der ersten zwölf Monate der Zustand nicht verbessert hat", sagt Bülau.

Die Autoren der Studie folgern aus ihrer Beobachtung, dass es wichtig sei, Komapatienten über Jahre hinweg zu therapieren. Bülau ist vorsichtiger: "Es ist gesundheitspolitisch wohl kaum durchzusetzen, dass ein Patient 20 Jahre lang die intensive Frührehabilitation bekommt. Aber man müsste die Patienten in Pflegeheimen immer wieder darauf überprüfen, ob sich ihr Zustand vielleicht doch verbessert hat."

© SZ vom 06.07.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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