Medizin:Batman im Tunnel

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Ulanovsky mit Forschungsobjekt: einer Ägyptischen Fruchtfledermaus (Foto: Itai Belson, Weizmann Institute)

Der israelische Neurowissenschaftler Nachum Ulanovsky untersucht, wie sich das Gehirn im Raum orientiert. Das perfekte Forschungsobjekt dafür ist die Fledermaus.

Von Agnes Fazekas

Ein futuristischer weißer Doppelturm ragt in den Himmel über dem Campus des Weizmann-Instituts in der israelischen Stadt Rehovot - er wirkt wie ein Mahnmal für alle ungeklärten Fragen, die die Menschheit ans Universum stellt. Der Koppler-Turm wurde in den Siebzigern gebaut, um Elektronen in der Vertikalen zu beschleunigen. Auf der zweiten Säule liegt ein riesiges Ei, aus dem man ins All gucken -"oder an Purim wilde Kostüm-Partys feiern kann", wirft Nachum Ulanovsky ein.

Der Forscher ist der lebende Beweis, dass sich die Naturwissenschaften zumindest an diesem Ort nicht im Elfenbeinturm abschotten. Der 47-Jährige ist in der israelischen Stadt Rehovot aufgewachsen, hat schon als Kind zwischen Palmen und Feuerakazien im Instituts-Garten gespielt, und an der Kinderuni Kurse in Mathe und Physik besucht. Seine Sätze schmettert er heraus wie ein Stand-Up-Künstler. Kein Wunder, dass seine "Popular Science Talks" in den Bars vor Tel Aviv immer gut besucht sind.

Das Abstrakte mit dem Konkreten in Beziehung zu setzen, ist Ulanovskys Leidenschaft. Er ist Biologe, hat aber auch ein paar Jahre Physik studiert, und er gilt als ein Pionier der Neurowissenschaften. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Frage, wie genau das Gehirn die Navigation meistert. "Ein spannendes Feld, einerseits geht es um eine abstrakte Reaktion, andererseits um konkrete Faktoren: Raum und Zeit."

Fledermäuse haben gleich zwei Orientierungssinne: Sicht und Echoortung

Passenderweise sind seine Forschungsobjekte so flatterhaft in der Bewegung wie beständig auf ihren Routen - und groß genug, um ein Mini-Labor auf dem Schädel zu tragen. Zweimal im Jahr zieht der Professor mit zwei Tierärzten durch natürliche Höhlen und verlassene Gebäude in ganz Israel, setzt das Schmetterlingsnetz in einem Winkel an - und klaubt Ägyptische Fruchtfledermäuse von der Decke.

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Über winzige Elektroden loggt er sich in ihr Hirn ein und lässt die Tiere anschließend durch Parcours fliegen. Die Erkenntisse, die Ulanovsky im Hippocampus der Fledermäuse gewinnt, lassen sich auf den Menschen übertragen, glaubt der Wissenschaftler. Aus evolutionärer Sicht gehört diese Region zu den ältesten Teilen des Säugetierhirns und ist für Gedächtnis und Orientierung zuständig.

"Das ist die Stelle, in der bei Alzheimer-Patienten zuerst Nervenzellen absterben", sagt Ulanovsky. Noch wisse man allerdings viel zu wenig über die Details der etwa hundert Milliarden Nervenzellen im menschlichen Gehirn. Und umso tiefer Ulanovsky in die Welt der winzigen Neuronen abtauchte, umso drängender wurde sein Bedürfnis, den Maßstab seiner Labore aufzuziehen.

Nun sitzt er in einem Golf-Kart und tuckert ans andere Ende des Campus. Eine Purim-Party gab es in diesem Corona-Jahr nicht, und auch Ulanovsky hat das Institut in den vergangenen zwei Monaten wenig gesehen. Er kann es kaum erwarten, dass nun endlich der Bau seines neuen Labors wieder aufgenommen wird: ein Tunnel, der nur ein paar Meter Durchmesser haben wird, aber dafür einen Kilometer lang sein soll.

Der Tunnel ist leicht gekrümmt und leer, bis auf eine LED-Leiste am Boden. "Im neuen Labor haben wir eine Klimaanlage", freut sich Ulanovsky. Erst heute morgen hat er die Technik aus dem alten Labor geborgen, außerdem ein altes Fahrrad, den Sombrero, eine Kommode und andere abstruse Objekte. Wie Hindernisse in der Natur sollten diese Gegenstände die Fledermäuse von ihrem Flug ablenken. Irgendwo war auch ein Peace-Zeichen angebracht. "Falls wir mal Besuch von Politikern bekommen."

Die Tiere können das Minilabor auf ihrem Rücken mit Leichtigkeit tragen

Die vierzehn Antennen, die sich über das Gelände verteilen - eine ganz oben auf dem Solarturm - bestimmen über GPS die Position der Fledermäuse. "Wie Satelliten, aber auf wenige Zentimeter genau."

"Hier ist es wirklich dunkel bei Nacht", sagt Ulanovsky und erzählt von Füchsen und Schakalen, denen er in der Dämmerung begegnet. Als Kind guckte er jede Attenborough-Tier-Dokumetation, die auf dem damals einzigen Fernsehkanal ausgestrahlt wurde. Weil ihm der Schulunterricht zu langweilig war, übersprang er zwei Klassen und schrieb sich schon mit 16 Jahren zum Physik-Studium ein.

Um das Studium nicht für den Armeedienst unterbrechen zu müssen, verpflichtete er sich im Anschluss zu fünf Jahren. Neben der Tüftelei an Technologie fürs Militär blieb ihm dabei genug Zeit, sich erst in die Biologie zu vertiefen, und dann in die Neurowissenschaften - um schließlich am Hirn hängenzubleiben. "Letztlich bin ich also doch wieder bei den Tieren gelandet."

Nachum Ulanovsky beginnt zu singen: "Tut-tut-tut-TUT-tut-tut." Für seine Doktorarbeit an der Hebrew University in Jerusalem hat er untersucht, wie das Katzenhirn akustische Signale verarbeitet. "TUT-TUT-TUT-tut-TUT-TUT." Das Ergebnis seiner Studien brachte die Welt der Neuroforscher damals ziemlich durcheinander: Bis dahin hatte man angenommen, dass die Neuronen-Aktivität schlicht ein eingehendes Signal wiedergibt. Ulanovsky jedoch fand heraus, dass die entsprechenden Neuronen sich an Signale erinnern, die vor Sekunden oder Minuten eingegangen sind - und jedes Mal völlig aus dem Häuschen geraten, wenn ein unerwartetes Signal eintrudelt, etwa ein hoher Ton in einer Reihe von tiefen oder andersherum.

Doch etwas störte Ulanovsky an seiner Studie. "Ich habe den Katzen künstliche Geräusche in einer durchkontrollierten Situation vorgespielt. Mit dem echten Leben hat das nichts zu tun." Auf der anderen Seite faszinierte ihn der Erinnerungseffekt der Neuronen. Er las sich in die Forschung ein und stieß dabei auf die Ortszellen. Schon in den Siebzigern hatten ein britischer Wissenschaftler Elektroden in den Hippocampus von Ratten gepflanzt und dort Neuronen gefunden, die immer dann Impulse feuerten, wenn sich die Nager an einer bestimmten Stelle ihres Käfigs aufhielten.

Allerdings stand er wieder vor einem Dilemma: Er wollte von den Laborratten weg. Das war der Moment, als die Fledermäuse in sein Leben flatterten. "Ich hielt sie für das perfekte Model." Sie haben ein interessantes Verhalten, bewegen sich im dreidimensionalen Raum, dazu haben sie gleich zwei Orientierungssinne: Sicht und Echoortung. "Und außerdem mag ich Nischen", sagt Ulanovsky. Die Ägyptische Fruchtfledermaus wählte er, weil sie in Israel weit verbreitet ist, sich jede Nacht dieselben Bäume als Futterquelle sucht und zudem in Höhlen lebt. "Es gibt also zwei Fixpunkte, um die Navigation zu beobachten."

In Kooperation mit einer High-Tech-Firma in Jerusalem hat seine Forschungsgruppe den kleinsten Neurologger der Welt konstruiert - ein Gerät, das die Hirnaktivität misst und aufnimmt. Auf der Fläche einer Streichholzschachtel sind ein Ultraschall-Mikrofon für die Echoortung verbaut, eine Kamera, ein 9-Achsen-Bewegungssensor wie in modernen Smartphones, 64 Kanäle für die elektrophysiologischen Signale aus dem Hirn - und ein Datenspeicher.

Die Elektroden des Neurologgers implantieren die Wissenschaftler in den Hippocampus der Fledermäuse, die zugehörige Hardware ist mit winzigen Schräubchen am Schädel befestigt. Die Tiere können das Mini-Labor auf ihrem Rücken mit Leichtigkeit tragen, sagt Ulanovsky. "Die legen pro Aufnahme-Session locker zwanzig Kilometer damit zurück."

Diee High-Tech-Logger helfen seinem Team und ihm, die Studien unter möglichst lebensechten Bedingungen durchzuführen. "Es geht mir darum, Verhaltensaspekte zu untersuchen, die komplett natürlich sind - aber reproduzierbar, und damit kontrollierbar." Wie ein Vogellied, das der Singvogel naturgemäß von seinem Vater lernt, und ohne Abweichung immer wieder trällert. Gerade schreibt Ulanovsky ein Buch über die philosophischen Argumente hinter seinem Forschungsansatz, den er "Natürliche Neurowissenschaft" nennt.

Aus fünf Jahren Tunnelblick hat er schon einige Belege gesammelt, wie Studien außerhalb des Laborkäfigs zu ganz neuen Erkenntnissen über das Säugetier-Gehirn führen könnten. Zum Beispiel gab er sich nicht damit zufrieden, dass die Ortszellen der Fledermäuse sie im dreidimensionalen Raum verorten. "Zum Navigieren brauchst du ein Ziel!" Wie sich das im Gehirn darstellt, war bis dato unbekannt. Eine Plattform mit Früchten simulierte im Tunnel das abendliche Obstgelage. In der Kombination mit GPS-Tracking fanden die Forscher 2017 dabei neue Neuronen, die sowohl den Flugwinkel als auch die Distanz repräsentieren - sprich den Vektor.

Im Jahr darauf konnte Ulanovskys Team zeigen, dass sich Fledermäuse sehr bewusst sind, wo sich sozial nahestehende Artgenossen gerade aufhalten. Das sei wie bei uns Menschen. "Zumindest als Eltern von Kleinkindern wissen wir immer genau, wo sie sich gerade befinden." Und gute Fußballspieler sind eben doch sehr auf ihre Hirnkapazität angewiesen: Denn dort sind es die Neuronen, die durchfunken, auf welcher Höhe die Mitspieler gerade über den Rasen laufen.

Die Hirnaktivität schaut im Forschungstunnel anders aus als im kleinen Labor

Am spannendsten aber findet Ulanovsky die Frage, wie sich die Dimension der Umwelt auf die Orientierung auswirken. Bisherige Studien zu Ortszellen haben Wissenschaftler vor allem in winzigen Laboren gemacht. Um das Verhalten der Tiere in freier Natur zu untersuchen, erschienen ihm dieses Forschungsumfeld als unzureichend.

Die Suche nach Alternativen veranlasste Ulanovsky, seinen ersten Forschungstunnel bauen zu lassen. Und tatsächlich zeigte sich, dass die Hirnaktivität der Tiere dort anders aussieht als im kleinen Labor. Einerseits vergrößerte sich das Raum-Areal, auf das ein einziges Neuron reagiert. Dieses Areal bezeichnet man als Ortsfeld. Aber den Biologen begeisterte vor allem eine zweite Entdeckung: Ein Neuron reagierte mal in einem spezifischen Bereich von zwanzig Metern, ein paar Flügelschläge weiter feuerte dasselbe Neuron auf einer Strecke von nur zehn Metern. Demnach könne sich die Auflösung des Raums innerhalb einer einzelnen Nervenzelle ändern. "Für einen Neurowissenschaftler ist das extrem überraschend", sagt der Professor: "An keiner anderen Stelle im Gehirn ist uns so ein Code bekannt."

Wenn der neue Tunnel Ende des Jahres fertig ist, will Ulanovsky den Maßstab noch ein Stück weiter aufziehen. Auf der Brache am Ende des Campus soll dann ein weitflächiges Labyrinth stehen. Dort möchte er Fledermäuse dazu bringen, im Flug plötzliche Entscheidungen zu treffen - etwa, indem er einen Gang blockiert. Die Tiere wären dann gezwungen, auf die Erinnerung ihrer kognitiven Landkarte zuzugreifen.

Bis es soweit ist, hat der "Batman", wie ihn seine Kollegen nennen, genug mit der institutseigenen Fledermauskolonie zu tun. Fledermäuse sind sehr soziale Tiere. "Ich frage mich, ob ihre Neuronen je nach Individuum oder Geschlecht unterschiedlich reagieren?"

In seinem Kabuff im Institut liegen die Tiere als Fingerpuppen herum, hängen als Plüschfiguren an Regalen und schwingen sich über Kaffeetassen. Dass sie bei Ulanovskys zu Hause zum Tischgespräch gehören, illustriert eine ganze Galerie von Zeichnungen. Eine davon liebt er besonders: die Anleitung zum Malen einer Fledermaus in sieben Schritten, angefertigt von seiner damals siebenjährigen Tochter.

Und sein Sohn hat ihm ein Büroschild gebastelt. Die Wörter darauf stehen auf dem Kopf. "Logisch, oder?", sagt er: "Damit sie die Fledermäuse im Hängen lesen können!" Den Ingenieuren, die sein erstes Bat-Lab bauten, musste er dagegen immer wieder erklären, dass sie die Technik, die eigentlich in die Decke kommt, tatsächlich im Boden installieren. "Bei uns steht eben alles auf dem Kopf."

© SZ vom 13.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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