Musiker:"Wolfgang Amadeus war kein Wunderkind"

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SZ Wissen: Bevor ehrgeizige Eltern jetzt anfangen, ihre Kleinkinder ständiger Musik auszusetzen: Um welchen Preis geschieht so etwas? Mozart schrieb einmal: "Ich kann nicht poetisch schreiben ... Ich kann sogar durch Deuten und durch Pantomime meine Gesinnung und Gedanken nicht ausdrücken ... Ich kann es aber durch Töne."

manneken, afp

Musik wie eine Sprache lernen: Neugeborene in Kosice (Slowakei).

(Foto: Foto: AFP)

Jäncke: So war das. Wie viele Kinder, die extreme Fähigkeiten entwickeln, hatte Mozart defizitäre Bereiche. Er war in sozialer Hinsicht ungeschickt und unsicher. Der Umgang mit seinen Freundinnen und Frauen zum Beispiel war nicht richtig erwachsen.

Er hat es nie geschafft, sich von seinem Vater zu lösen, ein eigenes Leben aufzubauen, und in der wirtschaftlichen Lebensplanung war er geradezu ein Analphabet. Ob bei Mozart sogar neurologische Schäden vorlagen - manche wollen ein Tourette-Syndrom aus den Kraftwort- Kaskaden seiner Briefe heraushören -, diese Frage ist mir allerdings zu spekulativ.

SZ Wissen: Der Vater jedenfalls steht nicht in bestem Licht da. Oder ist aus Expertensicht auch denkbar, dass der begabte Sohn ihn gerührt und erstaunt hat?

Jäncke: Ich glaube nicht, dass Leopold der gerührt Staunende war. Ein Training, wie er es dem kleinen Wolfgang Amadeus auferlegte, würden wir heute keinem Kind zumuten.

SZ Wissen: Doch ohne Talent hätte das nicht viel geholfen. Was ist Talent, wenn nicht ein anderes Wort für Genialität?

Jäncke: Nach den neuesten Untersuchungen müssen wir annehmen, dass unsere kognitiven und motorischen Fertigkeiten höchstens zu 50 Prozent genetisch determiniert sind. Das nennen wir Talent. Die anderen 50 und mehr Prozent sind also durch Umwelteinflüsse, Erziehung und Training bestimmt. Betrachten wir aber lieber die Leistung, die am Ende herauskommt. Sie ist eine Funktion von drei Faktoren: Fähigkeit mal Wollen mal Möglichkeit.

Das heißt, wenn man eine hohe Fähigkeit hat und beste Möglichkeiten, aber keine Lust, lautet die Rechnung: eins mal eins mal null. Heraus kommt null Leistung. Fähigkeit wiederum setzt sich aus Talent und Training zusammen, das heißt, wer nicht trainieren will, kann noch so viel Talent besitzen, er wird es zu nichts bringen.

SZ Wissen: Training ist also der entscheidende Faktor?

Jäncke: Der Psychologe Anders Ericsson hat dies in einer Studie gezeigt: Absolventen der Berliner Musikhochschule, die aufgrund ihrer Abschlussnoten für eine internationale Musikerkarriere qualifiziert waren, hatten schon vor dem Studium, als Kinder und Jugendliche, 7500 Übungsstunden absolviert. Wer vorher nur etwa 3500 Stunden geübt hatte, den erwartete nach dem Studium ein Werdegang als Musiklehrer.

SZ Wissen: Und was motivierte Mozart zum Training? Biografen schreiben, er sei ein außergewöhnlich liebesbedürftiges Kind gewesen. Ist das eher die Folge eines harten Lernalltags oder vielleicht ein Hinweis darauf, dass sich das Kind durchs Üben Liebe verdienen wollte?

Jäncke: Ich glaube beides - ein ganz wichtiger, wenn auch etwas spekulativer Punkt. Er könnte erklären, warum Mozart sich so lange dem Vater unterworfen hat und erst sehr spät rebellierte. Man kennt die Briefe an den Vater, der für Mozart "gleich nach Gott" kam. Dieser starke Bezug legt nahe, dass der Vater vielleicht gar keinen Zwang auf das Kind ausüben musste.

Der kleine Mozart wollte das Musizieren üben wie eine Sprache, von der er permanent umgeben war. Mozart hat sich, denke ich, selbst sehr über die Musik definiert. Er hatte, wie jeder Mensch, ein Musikkonzept entwickelt. Nur muss es für ihn ein außergewöhnlich wichtiges, vielleicht das wichtigste seiner Persönlichkeit gewesen sein.

SZ Wissen: Was ist das: ein Musikkonzept?

Jäncke: Es handelt sich um Klangvorlieben, die jeder in seiner Biografie entwickelt, und die Verbindungen von Klangeindrücken mit Empfindungen und Bedeutungen. Diese Verbindungen strukturieren jede Persönlichkeit.

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