SZ Wissen: Mit fünf Jahren komponierte Wolfgang Amadeus Mozart sein erstes Menuett, mit elf sein erstes Bühnenstück. Der Vater sprach von einem Wunder. Was sagt die Wissenschaft heute?
Mozart: Als Wunderkind vermarktet
(Foto: Foto: dpa)Jäncke: Sie sagt zunächst einmal: Vorsicht. Manche frühen Kompositionen sind nicht zum behaupteten Zeitpunkt entstanden, sondern einige Jahre später. Außerdem hat Vater Leopold die Noten niedergeschrieben, während der kleine Wolfgang Amadeus vor sich hin spielte.
Was in diesen Noten stammt also wirklich vom Kind? Sicher wissen wir heute nur, dass Mozart sehr früh begonnen hat zu musizieren, und wir wissen: Wenn Kinder etwas intensiv üben, zeigen sie erstaunliche Leistungen. Spielt ein Kind früh Schach, wird es mit Sicherheit Schachexperte. Kinder können ein Expertentum entwickeln, das Erwachsenen wie ein Wunder erscheint.
SZ Wissen: Ist diese Fernanalyse in Bezug auf Mozart nicht ziemlich gewagt?
Jäncke: Nein, gewagt ist vor allem die gängige Sicht auf Mozart, die dem Kind göttliche Begabung zuschreibt. Wenn der Dirigent Nikolaus Harnoncourt sagt, Mozart sei ein Genie von einem anderen Stern, dann entfernen wir uns von der Wahrheit. Ich versuche, mich dem Phänomen Mozart naturwissenschaftlich zu nähern.
Das heißt, wir müssen das Wissen über die Entstehung so genannter Genies, die man besser Experten nennen sollte, mit den Fakten zusammenbringen, die wir von Mozart kennen. Das dabei entstehende Bild ist stimmig. Das Genie dagegen ist ein Begriff aus der Romantik, das durch die psychologische Forschung längst widerlegt ist.
SZ Wissen: Demnach machte bloß Übung den Mozart?
Jäncke: Richtig. Zwar muss er auch Talent besessen haben, doch wichtiger ist die Frage nach der Motivation dieses Talents: Wie kam die Spitzenleistung zustande, warum hat dieser kleine Junge mit drei Jahren so intensiv und erfolgreich Geige und wenig später Klavier geübt, welche Möglichkeiten steuerte seine Umgebung zu dieser Entwicklung bei? Das interessiert uns Neurowissenschaftler.
SZ Wissen: Und wie lautet die Antwort?
Jäncke: Wir wissen, dass der kleine Wolfgang Amadeus in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem das gesamte Leben von Musik bestimmt war. Der Vater war Kapellmeister, Musiklehrer und Autor eines Standardwerks für Musikpädagogik. Tägliches Musizieren war im Hause Mozart also lebensnotwendig und das muss die frühkindliche Entwicklung beeinflusst haben.
Jedenfalls brachte diese Entwicklung den Vater auf eine Geschäftsidee: Er wollte mit seinen Kindern offenbar Geld verdienen und präsentierte sie als Wunderkinder. Als Wolfgang sechs Jahre alt war, ging der Vater mit ihm und der vier Jahre älteren Schwester Nannerl auf Tournee. Sie spielten am Kaiserhof in Wien, vor Ludwig XV. in Paris und vor Georg III. in London.
SZ Wissen: Also schlummert in vielen Neugeborenen ein solcher Musikexperte.
Jäncke: In gewisser Weise ja, denn das menschliche Gehirn fängt außerordentlich früh an, Spezialisierung zu betreiben: Ab dem neunten Monat unterscheidet jedes gesunde Kind muttersprachliche Laute von fremdsprachlichen und speichert Klangspezialitäten und Betonungsmuster ab.
Das Gehirn stellt sich extrem früh auf die Umwelt ein, es hat sich in der Evolution zu einem Kulturorgan entwickelt, das ungeheuer vielfältige Anpassungsmöglichkeiten bewerkstelligt: Es gibt weltweit mindestens 6000 verschiedene Sprachen, 20.000 Dialekte und nichts davon ist angeboren. Es sind Kulturtechniken. Insofern haben wir die Möglichkeit, aus uns allen sehr früh Experten in verschiedenen Kulturtechniken zu machen.