Medizin:Kettenmenschen

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Nach Bürgerkrieg und Ebola-Seuche leiden Hunderttausende in Sierra Leone unter Depression und Schizophrenie. Leider gibt es im ganzen Land nur eine einzige psychiatrische Klinik.

Von Bernd Dörries

Der eine sagt, er sei ein Professor und gegen seinen Willen hier, seit vielen Jahren schon, und bittet darum, das Missverständnis aufzuklären. Der andere jammert nur vor sich hin. Ein Mann namens Sia sitzt auf einem Bett und erzählt von den Toten, die er im Krieg gesehen hat und den Drogen, die er danach nahm. Hier sei nun alles gut. Es sitzt auf seinem Bett in einem riesigen Saal des Kissy Mental Hospital in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone in Westafrika.

Es riecht so, als sollte jemand mal das Fenster öffnen, obwohl alle schon offen sind. Manche Betten haben einen Bezug über der Matratze, manche nur noch zerschlissene Teile von ihm. Manche Männer sind an das Eisengestell des Bettes gekettet, manche können frei herumlaufen. Alle haben glasige Augen, aus denen sie einen anschauen, wie aus einer Welt, die sehr weit entfernt ist. Alle nehmen Tabletten. "Das stabilisiert sie, das ist der Anfang der Therapie", sagt Dr. Edward Nahim.

Das Kissy Mental Hospital wurde 1820 von den Briten gegründet, als das erste Psychiatrische Krankenhaus in Sub-Sahara-Afrika, das es auch ziemlich lange geblieben ist. Und fast vier Jahrzehnte lang war Edward Nahim dort der einzige Arzt, der einzige Psychiater des ganzen Landes. Eines Landes, das so dringend Psychiater braucht, wie kaum ein anderes auf der Welt. Sieben Millionen Menschen leben in Sierra Leone, etwa eine Million von ihnen benötigt dringend eine Behandlung, leidet unter verschiedenen psychischen Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie, schätzt Nahim. Erst war es der Bürgerkrieg, der elf Jahre dauerte, Zehntausenden das Leben kostete und das ganze Land traumatisierte. "Jeder hat jemanden verloren oder jemanden sterben sehen. Viele Menschen haben eine posttraumatische Störung", sagt Nahim.

Manche schickt er auch zu Heilern, hoffentlich geraten sie nicht in einen Exorzismus

Und als das Land gerade dabei war, wieder auf die Beine zu kommen, brach die Ebola-Seuche aus. "Es war der Horror, die Leute hatten Panik, durften sich nicht mehr anfassen", sagt Nahim. Das nächste Trauma. Wie steckt ein Land so etwas eigentlich weg?

"Tja", sagt Nahim. Er lächelt, aber seine Augen sehen müde aus. Vielleicht stellt er sich schon zu lange dieselbe Frage.

Nach dem Abschluss an der High-School in Freetown studierte er in der damaligen Sowjetunion, in der Ukraine. Und ging danach mit einem Stipendium nach London. An den besten Krankenhäusern sei er gewesen, sagt Nahim, Mitglied des Royal College of Psychiatrists, 1982 kehrte er in seine Heimat zurück und übernahm das Kissy Mental Hospital, das einzige psychiatrische Krankenhaus des Landes.

Jetzt sitzt er in einem Büro, das man mal wieder streichen könnte, oder es gleich bleiben lassen kann, es sind gerade mal wieder um die 100 Prozent Luftfeuchtigkeit in der Stadt, eine drückende Hitze, die sich in jede Mauer frisst, alles verschimmeln lässt. Als Nahim damals zurück kam, um den Menschen in seinem Land zu helfen, glaubte er an die Kraft der Medizin. Aber das Land glaubte nicht unbedingt an ihn und auch nicht an die neuen Medikamente, die er mitbrachte. Er war einfach der "crazy doctor". Eine Formulierung, die offen lässt, wer verrückt ist, der Doktor oder die Patienten.

Manche der gut 100 Patienten im Kissy Mental Hospital werden einfach angekettet. Sie könnten sich selber oder andere Menschen verletzen, heißt es. (Foto: ZUMA Press/imago)

"Psychische Krankheiten stigmatisieren und diskriminieren hier immer noch zu häufig. Die Menschen gelten nicht mehr als Menschen. Man vermeidet den Kontakt mit ihnen", sagt er. Sie gelten als schwach oder verhext oder beides. Viele psychisch Kranke in Westafrika werden von ihren Verwandten versteckt, in dunklen Löchern angebunden - weshalb manche sie Kettenmenschen nennen. Die Gesunden haben Angst vor den Kranken. Oder schämen sich für sie. Oft sie sind ihnen einfach lästig.

Die Ketten im Krankenhaus seien nicht schön, sagt Nahim, aber manchmal ginge es nicht anders, dann müssten die Menschen zu ihrem eigenen Schutz und dem der anderen fixiert werden. "Wir sind immer noch zu wenige. Wir haben zu wenige Ärzte. Zu wenig Pflegepersonal." 35 Jahre lang war er der einzige Psychiater des Landes, seit 2017 hat er zwei oder drei Kollegen - je nachdem, wen man fragt. Die aber alle gerade auf Dienstreise sind oder im Urlaub, wenn man sich mit ihnen treffen will.

So ist es weiterhin vor allem Nahim, der in seinem Büro sitzt und die Rezepte verschreibt, viel mehr macht er nicht, viel mehr Zeit hat er nicht. Er sucht für jeden Zustand das passende Medikament. "Reden und zuhören, das macht die Familie, oder die Kirche", sagt Nahim.

Als er damals als junger Arzt zurück kam nach Freetown, da war er noch überzeugt von der Überlegenheit der Wissenschaft und der Schulmedizin. Heute, so sagt er, schicke er manche seiner Patienten auch zu traditionellen Heilern. "Das hilft, wenn man daran glaubt, wenn man Teil dieses Kulturkreises ist. Auch dort können sich Leute aufgehoben fühlen." Sie bewegen sich dann aber auf einem schmaler Grat, der schnell wieder in der Stigmatisierung enden kann, bei Exorzismus und Hexerei.

In Sierra Leone taten sich vor einigen Jahren mehrere NGOs mit der WHO und der Regierung zusammen und gründeten die Mental Health Coalition. Aus Deutschland war die Christoffel-Blindenmission (CBM) dabei. Ziel der Koalition war es vor allem, den psychischen Krankheiten das Stigma zu nehmen und die Behandlung vor Ort zu verbessern. Es wurden einige Tagungen abgehalten und Arbeitsgruppen gebildet.

Es habe sich aber auch in der Praxis etwas verändert, sagt Joshua Abioseh Duncan, der für die CBM vor Ort tätig war. Mit genau 339 677,70 Euro aus Mitteln der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sei vor allem die Versorgung in den ländlichen Gebieten verbessert worden, Krankenschwestern und Ärzte haben Fortbildungen erhalten. Für die Apotheken wurden Psychopharmaka bestellt. Es wurden aber auch sehr viele Steuerungseinheiten gegründet, um die vielen Partner zu koordinieren. Und um das, was man koordiniert hat, zu dokumentieren.

"NGOs und Geber sammeln Geld, und wenn das Geld verbraucht ist, geht das Programm zu Ende", sagt Nahim. "Die Leute helfen, aber sie helfen vor allem sich selbst." So sei es in all den Jahrzehnten gewesen, in denen er im Krankenhaus gearbeitet hat. Mal kam die Weltbank, mal die Europäische Union. Auf dem Hof des Krankenhauses stehen nun fünf Toiletten, deren Renovierung 2012 von der EU bezuschusst wurde, worauf ein großes Schild hinweist. Laufen tun sie trotzdem nicht, weil es kein Wasser gibt. "Die Leute vor Ort wissen viel besser, was wirklich benötigt wird", sagt Nahim.

Die Medizinstudenten sind an Psychiatrie nicht interessiert. Dort verdienen sie zu wenig

In der Küche zum Beispiel kochen die Köchinnen immer noch auf dem Holzfeuer, das den ganzen Raum verrußt. An diesem Tag wird allerdings gar nicht erst angefeuert, weil die Regierung vergessen hat, die Lieferanten zu bezahlen. "Es wäre besser, wenn die Geberländer ihr Geld direkt an die Regierung zahlen", sagt Nahim. Die sei immer vor Ort, sagt Nahim. Er selbst bekommt sein Geld von der Regierung, die viel über Korruptionsbekämpfung redet - aber selbst regelmäßig in Korruptionsskandale verwickelt ist.

Eigentlich schon pensioniert, geht der Psychiater Edward Nahim immer noch fast jeden Tag in seine Klinik; es gibt sonst fast niemanden, der den psychisch Kranken helfen kann. Er verschreibt vor allem Medikamente. (Foto: Michael Duff)

Andererseits habe sich auch einiges verändert, sagt Nahim. Heute wisse man mehr über Seelenkrankheiten als früher. Und die psychischen Störungen haben es durch die Programme der vergangenen Jahre zumindest auf die Agenda der Regierung geschafft. Am Kissy Hospital sind an diesem Tag ein Dutzend Krankenschwestern zu Besuch, das gehört zu ihrer Ausbildung. Sie sind das Rückgrat des Gesundheitssystems, sollen später in einem der sechzehn Distrikte des Landes ihren Dienst tun. Und sich dann auch um die psychisch Kranken kümmern, sogar Rezepte für die Patienten ausstellen.

An diesem Tag sitzen sie in ihren neuen Uniformen mit einem Block in der Hand vor den Kranken, schreiben auf, was die erlebt haben, wann sie welche Pillen bekommen. Sie lachen, ihre Augen blitzen.

Daneben steht Lahai Conteh, der hier seit 31 Jahren arbeitet und als erstes erzählt, dass er von den 100 Dollar im Monat mehr schlecht als recht über die Runden käme. Um acht Uhr am Morgen bringt er den Patienten den Tee, um zehn Uhr die Medikamente. Manchmal reden wir mit ihnen, sagt er. Was an diesem Tag aber nicht der Fall ist. An diesem Tag dösen alle Kranken vor sich hin.

Die Frau des Präsidenten hat vor einiger Zeit einen Raum renovieren lassen, für Gesprächstherapie und Gruppenaktivitäten. Der aber ist verschlossen. Es fehlt an Strom, es fehlt an Wasser. Es fehlt vor allem am Glauben, dass sich etwas ändern wird. "Wir brauchen mehr Geld und Personal", sagt Conteh. Ein Satz, der zur Routine geworden ist in den vergangenen Jahrzehnten. Fast jeder, mit dem man im Krankenhaus spricht, bittet um etwas Geld, um über die Runden zu kommen.

Psychische Krankheiten sind nicht nur bei der Bevölkerung Sierra Leones unbeliebt, sondern auch bei den Spendern in den reichen Ländern. Die Christoffel-Blindenmission engagiert sich und auch der kleine Reutlinger Verein Freundeskreis St. Camille in anderen Ländern Westafrikas, viel mehr Organisationen gibt es aber nicht. Auf seiner Internetseite schreibt der Verein: "Immer wieder bemühten wir uns darum, große Hilfsorganisationen an der Unterstützung der in Afrika einmaligen Initiative zu interessieren." Leider hätten sie damit aber keinen Erfolg gehabt, berichtet der Verein weiter, da auch im Raster der deutschen Afrikahilfe psychisch Kranke keine Rolle spielten. "Wir konzentrieren uns auf unsere Programmschwerpunkte", hätten sie stets zu hören bekommen. Also starteten sie ihre eigenen Schwerpunkte, mit Zentren an der Elfenbeinküste und in Benin.

Das Programm der Blindenmission in Sierra Leone ist mittlerweile beendet, eine Mitarbeiterin kümmert sich noch darum, dass das Erreichte fortgeführt wird. Und selbst wenn es von anderen Organisationen für Sierra Leone mehr Geld gäbe, wäre es gar nicht so leicht, geeignetes Personal zu finden. Seit vielen Jahren unterrichtet Nahim an der medizinischen Fakultät der Universität, seit vielen Jahren sagt er seinen Studenten, dass die Regierung für jeden von ihnen Stipendien vergebe, der sich auf die Psychiatrie spezialisieren wollte. "Die lachen dann nur, und sagen, dass es in der Psychiatrie nicht viel zu verdienen gibt. Junge Ärzte wollen aber viel Geld verdienen."

Und so geht Nahim mit seinen 69 Jahren noch fast täglich in sein Büro in der Klinik. Die Regierung habe ihn gebeten, weiter zu machen und sei bei ihm auf wenig Widerstand gestoßen, berichtet Nahim: "Ohne Arbeit werde ich noch verrückt."

Die Recherche für diesen Text wurde mit Unterstützung des European Journalism Centre über sein Global Health Journalism Grant Programme umgesetzt.

© SZ vom 03.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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