Nachbeben in Japan:Stakkato ohne Erbarmen

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Die Natur gönnt den Menschen in Japan keine Atempause: Schon wieder ist Tokio erschüttert worden. Und niemand kann sagen, ob eines dieser Nachbeben nicht noch einmal ganz heftig sein wird. Die Seismologen sind ratlos.

Patrick Illinger

So richtig beneiden möchte man Erdbebenforscher in diesen Tagen nicht. Zwar wissen sie beeindruckend viel über die Mechanik von Erdplatten und über die grundlegenden Mechanismen, nach denen sich Spannungen im Boden aufbauen und Erdbeben auslösen. Doch bei einer Frage müssen die Experten regelmäßig passen: Was bringt die Zukunft?

Noch immer liegen Teile Japans in Trümmern. Wann und vor allem wie heftig die Erde dort wieder bebt, kann derzeit niemand sagen. (Foto: Reuters)

Leider ist genau das für die Bevölkerung einer seismisch aktiven Region wie Japan die interessanteste Frage. Wie gefährdet sind die Menschen des Inselreichs, mal abgesehen von Fukushima 1 und radioaktiver Strahlung? Stehen auf der am 11. März so heftig gebeutelten Hauptinsel Honshu weitere Starkbeben bevor? Oder wird das enervierende Stakkato mittelschwerer Beben der vergangenen Tage auf Dauer anhalten?

Zum Thema Nachbeben sind unter Geologen zwei Daumenregeln verbreitet. Die eine lautet: Die Stärke von Nachbeben liegt mindestens eine Magnitude unter der des Hauptbebens. Die zweite lautet: Mit wachsendem Zeitabstand zum Hauptbeben nimmt die Zahl der Nachbeben ab. Qualitative Regeln wie diese zeigen, wie schwer es ist, in der Geologie quantitative Prognosen zu erstellen.

Und selbst an diese Daumenregeln "könne man sich nur grob halten", sagt Rainer Kind, Professor am Geoforschungszentrum Potsdam. Auf Japan angesprochen, sagt Kind: "Die ganze Situation ist ungewöhnlich." Schon mit dem starken Beben vom 11. März habe niemand gerechnet. Aufgrund von Analysen der Spannungsverhältnisse habe man die Zone südlich von Tokio tendenziell für gefährdeter gehalten. Dass die Großlage unterschätzt wurde, zeigt auch eine japanische Karte der Erdbebengefahren aus dem Jahr 2005. Sie ist vor allem grün und gelb gefärbt. Von Rot, der höchsten Gefahrenstufe, ist nicht viel zu sehen.

Das Überraschungsmoment des Starkbebens vom 11. März setzt sich nun bei den Nachbeben fort. Zwar haben diese bisher die genannten Daumenregeln bestätigt. Kein Nachbeben ist auch nur annähernd an die Magnitude 9,0 des Megabebens vom 11. März herangekommen. Und auch deren Zahl nimmt ab: Gab es am Tag nach dem heftigen Hauptbeben noch 99 Nachbeben der Magnitude 5 oder mehr, so erzitterte die Region beispielsweise am Dienstag dieser Woche nur viermal. Doch es gibt Merkwürdigkeiten, die Geologen derzeit rätseln lassen. Zu diesen gehört, dass es in den vergangenen sieben Tagen zweimal außergewöhnlich heftig bebte. In der Nacht zum 8. April war es ein unterseeisches Beben der Stärke 7,1 und am Montag dieser Woche ein Beben der Stärke 6,6 (das zuerst mit 7,1 falsch beziffert wurde).

Erdstöße dieser Größenordnung hat es in den zehn Tagen davor nicht gegeben und seit dem 11. März insgesamt nur ein dutzendmal. Vor allem aber, und das überrascht Geologen am meisten: Die Epizentren der Nachbeben liegen keineswegs nur im Bereich des Meeresbodens, der vor einem Monat aufbrach und den Tsunami auslöste. "Die Nachbeben in Japan streuen enorm", sagt der Geologe Birger Lühr vom Geoforschungszentrum Potsdam. Das sei von Anfang an aufgefallen. Tatsächlich reicht die geografische Streuung der Folgebeben bis über die Westküste Japans hinaus. Die Stärke der Nachbeben ist zwar deutlich geringer als die des Hauptbebens, häufig jedoch liegt das Epizentrum auch unter dem japanischen Festland. Wird bewohntes Gebiet direkt getroffen, kann es gefährlicher sein als ein fernes Seebeben.

"Die Magnitude sagt nicht unbedingt etwas über die Zerstörungskraft", betont Lühr. So habe es einmal auf Java infolge eines Bebens der Stärke 6,4 fast 6000 Todesopfer gegeben. "Es kommt auch darauf an, wie die oberflächennahen Landmassen in Schwingung geraten." Entwarnung will Lühr deshalb für Japan nicht geben. Das heftige und unerwartete Beben vom 11.März habe offenbar die gesamte geologische Spannungslage verändert. Dafür spricht, dass sich die Nachbeben nicht auf jene etwa 500-mal 150 Kilometer messende Fläche des Meeresgrundes beschränken, die vor einem Monat aufbrach. Offensichtlich haben in der Folge auch weiter entfernte Bereiche der Erdkruste ihre Bruchspannung erreicht.

Diese Vorgänge könnten sich noch Monate hinziehen, fürchtet Birger Lühr, auch wenn er ein weiteres Extremereignis wie ein Beben der Magnitude 9 für "eher unwahrscheinlich" hält. Möglich sei allerdings, dass die Entladung vom 11.März Spannungen in benachbarten Zonen verstärkt hat. In diesem Fall würde Lühr auf die südlich angrenzende Phillippinische Platte tippen, nachdem es im Norden, an der Ostküste Russlands, vor einigen Jahren bereits heftig gebebt hat.

Eine solche Fernzündung gab es nach dem Tsunami-Beben von 2004 vor Sumatra. Ein halbes Jahr später bebte der Meeresgrund wenige hundert Kilometer weiter südlich mit der Stärke 8,6. "Wir können einfach nicht genau sagen, was in Zukunft geschehen wird", sagt Rainer Kind. Dafür sei die Physik der Erdplatten noch zu wenig durchdrungen.

© SZ vom 13.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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