Heimatkunde:Ein seltsames Völkchen

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Für ausländische Wissenschaftler sind die Deutschen ein interessantes Forschungsobjekt. Sie erzählen, was das Deutschsein eigentlich ausmacht: Karge Komplimente, Sinn für Unsinn, wertvolle Klassik, heilende Ostalgie und leckerer Kuchen.

Titus Arnu und Hubert Filser

Komplimente: Karg und ritualisiert

"Nur in Deutschland sitzen Familien sonntags bei Kaffee und Kuchen zusammen." (Foto: Foto: dpa)

Kamerunische Komplimente leben von einer formalen und semantischen Vielfalt der Adjektive ("meine Kleine, du bist schön / heiß / total frisch / clean / cool"). Dabei beziehen sich die Adjektive in der Regel auf Frisur, Kleidung oder andere Aspekte der äußeren Erscheinung.

In deutschen Komplimenten werden Adjektive wie gut, schön, toll, wunderschön, spitze, klasse, prima, schick bevorzugt. Das Repertoire ist im Gegensatz zum kamerunischen weder groß noch variantenreich.

Kameruner sind es gewohnt, das bewertete Objekt größer darzustellen, als es in Wirklichkeit ist. Sehr oft tauchen hyperbolische Komplimente in Form von Metaphern ("Du bist ein Baobab, ein großer Affenbrotbaum", "Du bist eine Bombe") und Vergleichen ("Du leuchtest wie Gold/wie der Mond") auf.

Die Formulierungen sind kreativ und fantasievoll: Der Sprecher stützt sich auf Bilder, Stereotypen, Redensarten oder Gemeinplätze, die positive Assoziationen im kulturellen Kollektivbewusstsein aktivieren, und überträgt sie auf den wahrgenommenen Sachverhalt. Neben dem positiven Werturteil signalisiert der Sprecher seine soziokulturelle Identität.

Im Gegensatz zu diesem fantasievollen Komplimentstil im kamerunischen Kontext verfahren die Deutschen ritualisiert und karg. Der deutsche Komplimentstil erfüllt das ständige Anliegen, sich so schnell wie möglich verständlich zu machen und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Metaphern gebrauchen die Deutschen fast nie für Komplimente.

Kameruner und Deutsche reagieren auch unterschiedlich auf Komplimente. Häufig sind in Kamerun längere Äußerungen oder Kombinationen verschiedener Reaktionsmuster. Die Länge der Reaktionen vermittelt den Eindruck, dass Komplimente in vielen Fällen nicht als bloße Routine zu verstehen sind, sondern als Anlass zu einer intensiven Interaktion. In Deutschland dagegen wird das Kompliment üblicherweise mit einem lakonischen Dank entgegengenommen.

Besonders markant in Kamerun ist, dass Komplimente öffentlich an unbekannte Personen ausgesprochen werden. In Deutschland dagegen bestimmt die soziale Distanz, wann, wem gegenüber und welche Komplimente gemacht werden dürfen. Das Kollektivempfinden ist ein Bestandteil der kamerunischen Kultur. Die deutsche Gesellschaft ist dagegen auf Individualität hin orientiert.

"Wir hätten gedacht, dass wir die gängigen Unterschiede zwischen Deutschen und Briten finden müssten. Das hat sich überhaupt nicht bestätigt." (Foto: Foto: ddp)

Das Gruppenbewusstsein motiviert die Kameruner oft zu überschwänglichen und fantasievollen Komplimenten auch unbekannten Personen gegenüber. Während im deutschen Sprachraum Komplimente an Unbekannte als Eingriff in die Privatsphäre und daher als unhöflich interpretiert werden, wird das zurückhaltende Komplimentverhalten Fremden gegenüber in Kamerun als Desinteresse und somit als unhöflich verstanden.

In Kamerun sind Komplimente Fremden gegenüber kein Vergehen, sondern ein ungeschriebenes Gesetz: Starke Emotionen und extrovertierte Mitteilsamkeit sind wichtige Voraussetzungen für den Zusammenhalt der Gemeinschaft. In Deutschland kommen Komplimente in den meisten Fällen da vor, wo die soziale Nähe vorab etabliert wurde. Wenn die Beziehung distanziert ist, können Komplimente zum Gesichtsverlust führen.

Am Arbeitsplatz in Kamerun werden Komplimente oft von unten nach oben für strategische Zwecke benutzt. Es gibt keine klare Trennung zwischen Beruflichem und Privatem. Es kommt selten vor, dass Komplimente von oben nach unten gemacht werden. Chefs würden Gefahr laufen, Distanz zu ihren Angestellten aufzulösen und sich selbst zu degradieren. Im deutschen Sprachraum sind im Beruf viele Komplimentthemen, etwa das Aussehen, sehr heikel.

Die Studie zum Gebrauch von Komplimenten in Deutschland und Kamerun schärft den Blick für die Auffassung von Beziehungskommunikation in beiden Kulturen: Während Kameruner es gewohnt sind, sich direkt, ausdrucksstark und öffentlich zu äußern und die Grenze zwischen Privatem, Öffentlichem und Beruflichem zu übersehen, führt die Angst vor Normverletzungen in Deutschland zur Zurückhaltung im Komplimentstil.

Bernard Mulo Farenkia, Linguist aus Kamerun, arbeitet derzeit an der Universität Saarbrücken.

Begräbnis: Alles geregelt

In Deutschland wünschen sich fast 90 Prozent aller Menschen, zu Hause zu sterben. Tatsächlich sterben 50 Prozent im Krankenhaus und weitere 30 Prozent in Einrichtungen der Altenhilfe. Das zeigt, dass man es in Deutschland nicht als dringlich betrachtet, diesen Wunsch auch zu erfüllen.

Wichtiger scheint es, den Ablauf von Beerdigungen zu regeln. Die Friedhöfe unterliegen klaren Bestimmungen. Es gibt Regeln, wie Gräber aussehen dürfen oder wie lange Menschen darin begraben sein dürfen. Nach einer bestimmten Zeit wird das Grab weitergegeben. Das finde ich sehr seltsam. In Irland haben Tote für Generationen ihren Platz.

Gleichzeitig nimmt in Deutschland die Zahl der anonymen Gräber zu. Fünf Prozent aller Bestattungen sind heute anonym. Das bedeutet, dass keine Verwandten sich um die Toten kümmern. Anonyme Gräber werden von öffentlich Bediensteten gepflegt. Ich finde es traurig, dass es Menschen lieber ist, ein Grab ohne Namen zu haben als eines, um das sich niemand kümmert. Die Friedhöfe pflegt man sehr, sie sind Zufluchtsorte, an denen die Leute sogar Picknick machen.

Allerdings sind nur 52 Prozent der Begräbnisse in Deutschland Erdbestattungen. 48 Prozent der Toten werden verbrannt - und 2,5 Prozent der Eingeäscherten dann auf See bestattet. Auch Seebestattungen finde ich mysteriös. In Irland gibt es keine. In Irland haben wir ein anderes Verhältnis zum Meer. Hier rettet man sein Heil, indem man dem Meer fernbleibt.

Das Begräbnis selbst ist in Deutschland klar geregelt. Man muss eingeladen werden und die gesamte Zeremonie ist sehr formell. Dem Bestatter kommt die Rolle einer Autorität zu, eines Zeremonienmeisters.

Ich habe viele Bestatter interviewt: Eine Gesellschaft, in der es keine Großfamilien mehr gibt, in der die Familienmitglieder immer weiter entfernt voneinander leben, muss Fachleute beschäftigen, die im Todesfall den letzten Dienst leisten. Daraus ergibt sich eine interessante Situation. Die Bestatter versuchen, ihren Dienst möglichst persönlich zu verrichten, wollen ein schönes Ambiente schaffen - und geben Rat: Wie man sich zu verhalten hat auf einer Beerdigung, was man anziehen soll, wie und wo man den Hinterbliebenen sein Beileid ausspricht, welche Handschuhe man tragen darf, wie man die Hand schüttelt. Die Bestatter weisen ihre Kunden in die höhere Diplomatie im Umgang mit den Hinterbliebenen ein. Bei deutschen Beerdigungen geht es also weniger um die Toten als um die Hinterbliebenen.

In Irland ist das anders. Auf dem Begräbnis kommen viele Leute zusammen und erzählen sich Geschichten über den Toten. Als mein Vater vor drei Jahren starb, habe ich manches aus Erzählungen über ihn erfahren, was ich noch nicht wusste. Wir in Irland lieben ein gutes Begräbnis.

Patricia Lysaght, Professorin an der National University of Ireland in Dublin, hat Beerdigungsrituale unter anderem im Raum Paderborn untersucht.

Kuchen: Selbst gebacken

"Ich liebe Blechkuchen. Aus Japan kannte ich so etwas nicht, denn dort essen wir nur selten "cake", und den kaufen wir in der Konditorei. In südlichen Ländern isst man Kuchen als Dessert, und der Fünf-Uhr-Tee in England ist eine Erfindung des Adels. Nur in Deutschland sitzen Familien sonntags bei Kaffee und Kuchen zusammen. Das ist historisch so gewachsen und in allen gesellschaftlichen Schichten gleich.

Wie die Deutschen miteinander Kuchen essen, sagt viel über ihr kommunikatives Verhalten aus: Sie gehen offener miteinander um als Japaner.

Neben anstrengenden Recherchen in Archiven verlief die Feldforschung angenehm, denn ich habe oft sonntags nachmittags Leute besucht und sie beim Kaffee gefragt, mit wem sie Kuchen essen und welchen Kuchen sie am liebsten mögen. So habe ich herausgefunden, dass Selbstgebackenes für die Deutschen einen weit höheren Wert hat als jede noch so teure gekaufte Torte. Denn damit verbinden sie Wärme, Mutterliebe und Harmonie."

Die japanische Kulturwissenschaftlerin Satsuki Sakuragi promoviert am Institut für empirische Kulturwissenschaft in Tübingen.

Klassik: einmalig und bedroht

Wie bedeutend die Klassik für die deutsche Kultur ist, fiel mir auf, als ich eine Kirche im Erzgebirge besuchte. Ich trat im Weihnachtsgottesdienst als Solist auf und sollte Stücke von Bach singen.

Der Kapellmeister begrüßte mich: "Womit sollen wir die Leute begeistern?" Was für ein Konzept - Begeisterung als Inhalt eines Gottesdienstes! Dann staunte ich noch mehr: Der Kapellmeister kannte alle Bachkantaten und Oratorien auswendig.

Ohne andere Regionen Deutschlands zu schmälern: Vor allem Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt sind seit drei Jahrhunderten Zentren für Musikkultur höchster Qualität. Dort liegen auch die Geburts- und Wirkungsorte von Schütz, Bach, Händel, Schumann und Wagner.

Insgesamt ist Deutschlands Musikszene weltweit einmalig und unersetzbar. Es gibt mehr Operndarbietungen pro Kopf in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz als in jeder anderen Volksgruppe der Welt. Fast 80 Prozent aller Opernaufführungen der Welt finden dort jährlich statt.

Innerhalb der deutschsprachigen Länder besaß die ehemalige DDR die aktivste Musikkultur. Im Jahr 1990 spielte dort ein Orchester für 218.000 Einwohner - das höchste Pro-Kopf-Verhältnis der Welt. Zum Vergleich: In Westdeutschland gab es ein Orchester pro 691.000 Einwohner, in den USA eines pro 1.839.000 Einwohner.

Nach der Wende wurde schnell deutlich, dass es nicht möglich ist, alle Theater in den neuen Bundesländern im gleichen Maß wie früher zu unterstützen. Die Frage für Deutschland ist jetzt: Wer will diese einmalige Kulturtradition erhalten, wenn sie in Deutschland untergeht?

William Beeman ist Professor für Anthropologie, Theater und Tanz an der Brown-Universität in Providence (USA).

Humor: Komplex und kreativ

SZWissen: Als Präsident der Internationalen Gesellschaft für Humor-Studien haben Sie den besten Überblick über die Witzigkeit der Nationen. Sind die Deutschen so dumpfbackig, wie es immer heißt?

Ruch: Meine Studien und die meiner britischen Kollegen haben ergeben, dass die meisten Vorurteile nicht zutreffen. In einer internationalen Untersuchung haben wir uns auf gedruckten Humor, also Witze und Cartoons, konzentriert und sie Menschen in Deutschland, Frankreich, Italien, England, Türkei, Israel und Amerika vorgelegt. Die Ergebnisse waren überraschend: Nonsens-Humor stammt ja eigentlich aus England; aber es kam heraus, dass die Deutschen Nonsens am meisten mochten - signifikant mehr als die Briten.

SZWissen: Was sagt das über die Deutschen aus?

Ruch: Nonsens ist die Art von Humor, die mit den besten Persönlichkeitsmerkmalen einhergeht. Wir haben versucht herauszufinden, wer was lustig findet und warum. Diese Fragestellung geht auf Goethe zurück, der sinngemäß gesagt hat, dass der Mensch seinen Charakter durch nichts mehr preisgibt als durch das, was er lustig findet. Leute, die Nonsens von Monty Python, Gary Larson und die Titanic mögen, sind generell eher offen für neue Erfahrungen, interessieren sich für Fremdes, denken komplexer und sind kreativer. Leute, die Schotten- und Blondinenwitze mögen, möchten auch im Leben Klarheit, Stabilität und Sicherheit. Das sind Schwarz-Weiß-Denker, die für law and order sind und eher konservativ wählen würden.

SZWissen: War es überraschend für Sie, dass sich die Vorurteile über den trockenen Humor der Briten und die Anal- und Ausländerwitze der Deutschen nicht bestätigt haben?

Ruch: Wir hätten gedacht, dass wir die gängigen Unterschiede zwischen Deutschen und Briten finden müssten. Das hat sich überhaupt nicht bestätigt. Da waren wir schon überrascht.

SZWissen: Lässt sich Humor überhaupt präzise messen?

Ruch: Humor kann man messen wie andere psychologische Faktoren. Allerdings gibt es verschiedene Komponenten von Humor: logisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen, verbale und rechnerische Fähigkeiten, soziale und emotionale Intelligenz. Humor zu mögen ist unabhängig davon, Humor produzieren zu können. Leute, die sich mit lustigen Dingen umgeben, sind nicht unbedingt selbst lustig.

SZWissen: Wie sieht es mit Sexwitzen aus? Sind die in Deutschland beliebter als in der Türkei oder in den USA?

Ruch: Im Gegenteil. Wir haben in allen anderen Ländern statistisch auffällig höhere Werte gefunden für Sexwitze als in Deutschland. Diese haben nicht unbedingt etwas mit der Einstellung zum Sex zu tun, sondern mehr mit dem Bedürfnis nach Macht, mit chauvinistischen Haltungen und Klischees. Nur manchmal geht es darin wirklich um Sex. Nonsens-Sexwitze etwa können eine spielerische Haltung zu Sex ausdrücken. Diese Art von Witzen kommt in Deutschland gut an.

SZWissen: Um Deutschland ist es also nicht so schlecht bestellt?

Ruch: Nein. Jüngere Menschen zwischen 15 und 30 aus England, Amerika und Deutschland sind alle ungefähr gleich ernst. In Deutschland gibt es einen starken Anstieg in der ernsten Geisteshaltung und der schlechten Laune in der Altersgruppe ab 40 Jahren. Die Amerikaner sind in allen Altersklassen ziemlich gleich ernst.

SZWissen: Vergeht den erwachsenen Deutschen also der Humor?

Ruch: Die Deutschen sind nicht so humorlos, wie es im Ausland immer heißt. Bloß sind die Regeln, wann etwas witzig sein darf, viel strenger. In Amerika oder England umfasst der Humor mehr Bereiche des Lebens. Schon beim Einkaufen wird man mit lustigen Kommentaren begrüßt, bei Sitzungen wird dauernd gewitzelt, selbst das britische Parlament ist ziemlich witzig. In Deutschland bleibt man lieber ernst.

SZWissen: Konnten Sie Unterschiede zwischen deutschem, österreichischem und Schweizer Humor feststellen?

Ruch: Gerade habe ich die erste Studie über Humor in der Schweiz abgeschlossen. Die Schweizer mögen Inkongruenzlösungen - das sind eher vorhersehbare Witze, bei denen sich am Ende alles in der Pointe auflöst - etwas mehr als die Deutschen und den Nonsens gleich gern.

SZWissen: Und Österreich?

Ruch: Als Österreicher, der lange in Deutschland gelebt hat und in der Schweiz arbeitet, bin ich da extrem vorsichtig.

Willibald Ruch ist Professor für Psychologie an der Universität Zürich.

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