Geologie:Rügen bröckelt

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Von Rügens berühmten Kreidefelsen brechen zunehmend auch im Sommer Gesteinsbrocken ab. Mittlerweile ist ein Viertel der Kreideküste vom Einsturz bedroht.

Axel Bojanowski

Eigentlich wollten die Wanderer nur die "Wissower Klinken" fotografieren, jene imposanten Zinken auf den Kreidefelsen von Rügen. Doch daraus wurde nichts - das berühmte Panorama war über Nacht verschwunden. Die Klippen waren eingestürzt, ihre Trümmer lagen unten am Ostseestrand. Der Zusammenbruch der "Wissower Klinken" im Februar 2005 rückte kurzzeitig einen dramatischen Vorgang in die Schlagzeilen, der inzwischen wieder kaum beachtet wird. Doch Deutschlands größte Insel ist weiterhin vom Zerfall bedroht.

Im Februar 2005 stürzten die berühmten Wissower Klinken auf den Strand. (Foto: Foto: AP)

Stetig bröckelt Rügens bis zu 120 Meter hohe Kreideküste, die der Maler Caspar David Friedrich berühmt gemacht hat. Rund einen halben Meter pro Jahr frisst sich das Meer ins Land, besonders im Winter und Frühjahr krachen größere Blöcke hinunter. In den vergangenen Jahren mehrten sich aber auch die Abstürze im Sommer.

Küste akut vom Einsturz bedroht

Wie schlimm es wirklich um die Steilküste steht, enthüllt nun die Bestandsaufnahme zweier Geoforscher, die einen zehn Kilometer langen Abschnitt des Jasmunder Kliffs untersucht haben. Ein Viertel der Küste sei akut vom Einsturz bedroht, schreiben Andreas Günther von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe BGR und Christine Thiel vom Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik im Fachblatt Natural Hazards and Earth System Sciences (Bd.9, S.687, 2009).

"Ein Bauverbot für alle Gebiete näher als 200 Meter zur Küste" fordert nun Martin Meschede, Geologe an der Universität Greifswald. Der Appell bringt das Rügener Tourismusgewerbe in Bedrängnis. Aus Sorge, Urlauber könnten fernbleiben, versuchen Hoteliers und Lokalpolitiker bislang die Bedenken zu zerstreuen. Im Frühjahr 2005 war jedoch eine Frau im Süden der Insel von abstürzenden Trümmern am Strand erschlagen worden, woraufhin einige Urlauber ihre Buchungen stornierten.

Das Verletzungsrisiko für Spaziergänger sei aber normalerweise gering, betont Martin Meschede. Lediglich nach ausdauernden Regenfällen sei Vorsicht geboten, dann sollte man nicht unbedingt unter der Steilküste oder entlang der Kliffkante wandern.

Erhebliches Risiko für küstennahe Gebäude

Das größere Problem stellt sich den Anwohnern, deren Küste erodiert - nach jüngsten Felsstürzen liegen einige Gebäude in Lohme im Norden Rügens bedrohlich nahe am Steilufer. "Die Küstenabbrüche", konstatiert die BGR, "bergen ein erhebliches Risiko für küstennahe Gebäude, Wege und Straßen." Zudem bestehe im Nationalpark Jasmund Gefahr "für das Leben tausender Besucher".

In der Umgebung von Lohme überwachen Geologen bereits den Untergrund, um Anzeichen für ein mögliches Abrutschen des Dorfes zu erkennen. Die Signale aus dem Boden sind allerdings spärlich. Lediglich der Grundwasserpegel lässt bislang Rückschlüsse zu. Das Wasser könnte sich nach langen Regenfällen in porösen Erdschichten sammeln und diese in eine Rutschbahn verwandeln, fürchten Experten.

Vor allem Frühlingswochen könnten gefährlich werden. Im Winter spaltet gefrierendes Wasser den Boden, das Erdreich lockert sich. Nachfolgende Niederschläge und Schmelzwasser lassen den lehmigen Boden aufquellen - unerbittlich schiebt er sich gegen die Steilküste.

Das Meer nagt am Kliff

Von unten nagt das Meer am Kliff, bis es so steil ist, dass es seinen Halt verliert. Zunächst stützen noch abgerutschte Trümmer den Fels, doch Sturmfluten waschen sie weg - selbst ein einst hausgroßer Kreideblock hinterlässt bald nur eine milchige Fahne im Meer. Damit kehren die weißen Kreidepartikel zur ihrem Ursprung zurück - Rügens Kalk stammt schließlich von Schalen winziger Meeresorganismen. Vor etwa 70 Millionen Jahren in der Kreidezeit - der Epoche der Dinosaurier - bevölkerten Myriaden Algen und anderer Kleinstlebewesen einen Ozean in Nordeuropa. Ihre Schalen lagerten sich meterdick am Meeresgrund ab, sie wurden unter dem Gewicht nachfolgender Sedimente zu Gestein verpresst.

Die Erosion ist das Schicksal der Klippen, seit sie von Gletschern der Eiszeit aus dem Boden gedrückt wurden. Vielerorts klaffen Risse in den Kreidefelsen. Mit neuen Methoden versuchen Geologen immerhin, akute Risiken besser zu erkennen. Elektrische Strommessgeräte können gefährliche Rutschbahnen im Untergrund aufspüren, berichtete Gritt Büttner von der Universität Greifswald jüngst auf der Jahrestagung der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft in Kiel. Wasser im Boden verändert den elektrischen Widerstand, so dass sich Areale mit verminderter Standfestigkeit orten lassen.

Lasermessungen aus der Luft

Örtlich überwachen zudem Laserstrahlen den Boden, sie registrieren kleinste Verschiebungen. Hin und wieder überfliegen Forscher die Insel, um anhand von Lasermessungen aus der Luft kritische Veränderungen der Bodenform zu erkennen. Auch Spaziergänger könnten gefährliche Stellen an der Steilküste identifizieren, sagt Martin Meschede: Mulden nahe der Kliffkante sind Anzeichen dafür, dass sich das Gestein in Richtung Meer bewegt - der Kollaps droht.

Um das Einsturzrisiko noch besser einzuschätzen, haben Andreas Günther und Christine Thiel an der Kreideküste Rügens mit dem Geologen-Kompass rund 1500 Messungen vorgenommen. Sie legten das Gerät an nahezu jeden Bruch im Kliff, um die Lage der Kreideblöcke zu bestimmen. Zudem untersuchten sie Eigenschaften des Gesteins, etwa Rauhigkeit und Konsistenz.

Alle Felsen mit mehr als 26 Grad Neigung seien instabil, berichten die Forscher nun in ihrer Studie; an einem Viertel des untersuchten Kliffabschnitts drohten größere Abstürze. "Manche Bereiche müssen für Spaziergänger gesperrt werden", sagt Andreas Günther. Einige Gebiete nahe den Klippen mit exklusiver Lage und Panoramablick wurden bereits abgeriegelt.

Diskussion über Sanierungsmaßnahmen

Seit Jahren werden Sanierungsmaßnahmen diskutiert. Ingenieure haben vorgeschlagen die kollabierenden Bodenschichten mit Stahlstangen zu verbinden, sogenannten Erdnägeln. Auch Schüttungen zu Füßen des Kliffs werden erwogen, um den Boden zu stabilisieren.

Als besonders wirksam könnte sich eine Methode erweisen, die bereits in der Kaiserzeit angewendet wurde. Damals leiteten künstliche Kanäle das Regenwasser ins Meer, die Maßnahme verringerte die Rutschigkeit des Bodens. Wie stark die Kanäle nach Niederschlägen angeschwollen sein müssen, lassen Dutzende Bäche erahnen, die nach längeren Regenfällen von der Kreideküste stürzen. Bevor eine solche Drainage installiert werden kann, müsste aber untersucht werden, auf welch unterirdischen Bahnen das Regenwasser fließe, sagt Andreas Günther.

Ob die zuständige Landesregierung in Schwerin Millionen-Investitionen für die Sanierung des Bodens billigen wird, ist unklar. Zwar befasst sich seit Jahren eine Arbeitsgruppe der Regierung mit dem Thema, doch umfangreiche Sicherungsmaßnahmen noch nicht genehmigt.

Eine Ruine am Kap Arkona im Norden Rügens lässt das künftige Schicksal der kliffnahen Gebäude erahnen. Von der slawischen Jaromarsburg aus dem siebten Jahrhundert steht nur noch der halbe Burgwall, den Rest hat sich das Meer geholt. Einen Trost haben die Geologen aber immerhin: Die Erosion der Kreidekliffs schreitet so schnell voran, dass sich ständig neue Konturen im Fels bilden. Sie werden in Wissow neue Klinken formen.

© SZ vom 07.07.2009/cf - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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