Gemischte Gefühle: Staunen:Banal oder sakral?

Dass sowohl Wissen als auch Glauben dieses Gefühl als Ausgangspunkt betrachten, hängt mit dem Begriff des Wunders zusammen. "Staunen ist offenbar die subjektive Seite eines als Wunder empfundenen Phänomens", sagt der Historiker Till Kössler von der Universität München, der ein Buch über das Verhältnis beider herausgibt. "Wunder" ist dabei ein schillernder Begriff, der sich leicht missbrauchen lässt.

Die junge Sowjetunion zum Beispiel, erzählt Kössler, hat sich dessen Anfang des 20. Jahrhundert reichlich bedient. Die verblüffenden, aber letztlich rational zu erklärenden Fortschritte in Industrie und Gesellschaft bezeichnete die offizielle Propaganda gern als Wunder, während sie zugleich den frömmelnden Wunderglauben der einfachen Russen zurückdrängte oder noch besser auf den Staat umzulenken versuchte.

Die Zwiespältigkeit des Wunders färbt dabei auf das Staunen ab. Für die einen verbirgt sich hinter vermeintlichen Wundern ein durch die Wissenschaft zu erklärender Vorgang. Das Staunen unterliegt dann "den Verwertungsinteressen einer rationalistischen Weltsicht", sagt Ekkehard Martens, und wenn das bewunderte oder verwundernde Ereignis sich schließlich als hohles Spektakulum entpuppt, wenn die Erklärung banal wirkt oder eine Gewöhnung eintritt, bekommt auch das Staunen schnell einen schalen Beigeschmack.

Für die anderen sind Wunder Ausdruck eines höheren Sinns im Leben, wenn sie sich der natürlichen Erklärung beharrlich entziehen oder diese, da sie auf bloße Zufälle verweist, einfach zu banal erscheint.

Wunder müssen dann nicht einmal die von der katholischen Kirche offiziell bestätigten Taten sein, die Heilige vollbracht haben müssen, um kanonisiert zu werden. Sie können sich auch in der entrückten Schönheit einer Landschaft oder der besonderen Gabe eines Künstlers manifestieren. Im Staunen über diese unerklärlichen Phänomene offenbart sich manchen Menschen dann ein Sinn, den sie in ihrer Existenz suchen. Die Suche danach sehen Psychologen als elementares religiöses Erleben.

Aus dem Staunen über das Baby wächst der Sinn der Existenz

Ein Ausweg aus dem Dilemma "banal oder sakral", das die Verknüpfung mit dem Begriff Wunder auslöst, liegt vielleicht in der klaren, zumindest gedanklichen Trennung zwischen verschiedenen Arten des Staunens. Ekkehard Martens unterscheidet das neugierige und sinnliche Staunen vom metaphysischen. Dieses vermag Menschen zu tiefen Erkenntnissen und philosophischen Grundeinstellungen zu führen, wenn sie anhand erstaunlicher Erlebnisse einen Sinn im Leben erkennen oder eben keinen. Der Ausgang ist offen, auch wenn beim "Sichwundern über die Welt" sich oft "eher Entsetzen über die bedrohliche Macht der Natur einstellt und weniger Entzücken über ihre Schönheit", so Martens.

Das neugierige Staunen, das den Forscherdrang auszulösen vermag, und das sinnliche sind dagegen viel eher in der Alltagswelt beheimatet. Besonders gegenüber letzterem sollten Menschen aufgeschlossen sein, weil das Lebenskunst verspricht. Es erfordert aber, sagte der Frankfurter Psychotherapeut Mathias Hebebrand in einem Vortrag, einen Ausstieg aus dem Fluss der Zeit, "denn staunen lässt sich nur, wenn man nicht gleich wieder zur Tagesordnung übergeht, sondern sich Zeit nimmt, um dem Überraschenden innerlich Raum zu geben".

Dann liegen Martens' Kategorien des Staunens womöglich doch wieder ganz eng beieinander, zum Beispiel, wenn ein Vater das Wunder des Lebens in seinem neugeborenen Kind bestaunt. Zur sinnlichen Freude an dem Baby auf dem Schoß kommen die Erkenntnis, wie wenig biologische Erklärungen des Körpers das erwachende Bewusstsein des Kindes erklären können, und die Ahnung, im Schutz und der Erziehung des Kleinen könnte so etwas wie der Sinn der eigenen Existenz liegen.

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