Frage der Woche:Werden wir alle paranoid?

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Die Angst vor den Mitbürgern greift immer mehr um sich, warnen Forscher. Wird das 21. Jahrhundert ein "Zeitalter der Paranoia"?

Markus C. Schulte von Drach

Lachen die beiden auf den Sitzen im Zug vor Ihnen über Sie? Ist Ihnen dieser seltsame Typ im Supermarkt aus der Abteilung Tiefkühlkost zur Wursttheke gefolgt? Hören die Kollegen im Büro nicht immer ausgerechnet dann auf zu tuscheln, wenn Sie den Raum betreten, weil die ein Komplott gegen Sie aushecken?

Fast jeder vierte Londoner Bürger hat paranoide Gedanken. (Foto: Foto: istockphoto)

Vielleicht ist ja was dran. Schließlich können wir niemals wissen, was jemand anderes wirklich denkt. Vermutlich bilden Sie sich das aber nur ein. Und möglicherweise sind Sie ja sogar leicht paranoid. Das Gefühl, verfolgt zu werden, tritt nämlich erheblich häufiger auf als man bislang dachte.

Meist denkt man bei Paranoia an eines der Symptome einer schizophrenen Psychose - und die ist nicht so häufig. Doch wie Daniel Freeman vom Institute of Psychiatry am King's College in London berichtet, hat zum Beispiel fast jeder vierte Bürger der britischen Hauptstadt paranoide Gedanken.

Natürlich ist die Bandbreite dieser Gedanken groß. Die meisten Menschen, die sich verfolgt fühlen, denken dabei nicht an einen Geheimdienst, der ihnen einen Chip ins Gehirn gepflanzt hat, oder an außerirdische Mächte. Sie suchen einfach nur nach einer Erklärung für das, was sie nicht verstehen - einer Erklärung, die nicht zutreffend, sondern nur zufriedenstellend sein muss.

Und die wenigsten Menschen leiden unter so gefährlichen Wahnvorstellungen, dass sie sich mit Gewalt gegen eine eingebildete Gefahr wehren.

Häufiger kommt es zu Gefühlen der Zurückweisung, Kränkung oder Verletzung, weil Erfahrungen mit Mitmenschen falsch interpretiert werden. Und die Zahl der Menschen, denen es so geht, wächst offenbar. Darauf deuten zumindest Untersuchungen etwa in Großbritannien oder den USA hin.

Paranoide Gedanken, welche nicht als krankhaft eingeschätzt werden, hegen - je nach Untersuchung - zwischen einigen wenigen Prozent und der Hälfte der Population. Und wie etwa Dennis Combs von der University of Texas in Tyler der Nachrichtenagentur AP erklärte, ist die Zahl der Betroffenen unter US-Studenten in den vergangenen Jahren von fünf auf 15 Prozent gestiegen.

Daniel Freeman spricht in seinem kürzlich zusammen mit seinem Bruder Jason veröffentlichten Buch "Paranoia: The 21st Century Fear" sogar davon, dass wir in ein "Zeitalter der Paranoia" eingetreten sind. Zu seinem Schluss kommen die Briten unter anderem aufgrund von Studien an U-Bahn-Passagieren.

Unbehagen in der U-Bahn

So hatte Daniel Freeman zum Beispiel 200 ganz normale Studienteilnehmer mit einer Spezialbrille ausgestattet, die sie in einen Wagen der Londoner U-Bahn versetzte. Vier Minuten dauerte die Fahrt, während der virtuelle Mitfahrer herumstanden, Zeitung lasen und den Probanden hin und wieder anschauten.

Und obwohl die künstlichen Passagiere nun wirklich keine Gefahr darstellten, berichteten 40 Prozent der Versuchsteilnehmer von unbehaglichen Gefühlen. "Da war ein Mann, der mich die ganze Zeit anstarrte", berichtete etwa ein Proband. "Ich glaube, er wollte Streit mit mir anfangen."

Betroffen waren offenbar vor allem Menschen, die zur Ängstlichkeit neigen oder ein geringes Selbstvertrauen besitzen. Die leicht wahnhaften Vorstellungen, so Freeman, seien jedoch nicht krankhaft oder bedenklich.

Freeman geht davon aus, dass etwa ein Viertel der U-Bahn-Passagiere in London unter realen Bedingungen tatsächlich paranoide Gedanken hat. Verstärkt werden die Gefühle, von Mitmenschen bedroht zu werden, seiner Einschätzung nach durch die Enge und den Mangel an Fluchtmöglichkeiten in der Tube.

Weitere Faktoren, die die Tendenz zur Paranoia unterstützen, sind ihm zufolge die immer weiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich, Jobunsicherheit in Zeiten flexibler Arbeitsmärkte, sowie Medienberichte über Verbrechen und Warnungen vor einer wachsenden Terrorgefahr.

Freemans virtuelle U-Bahn. Viele Menschen entwickeln sogar Avataren gegenüber paranoide Gedanken. (Foto: Foto: University College London)

Dies führte zum Beispiel im Oktober des vergangenen Jahres zu der bizarren Situation, dass die Menschen in Londons Stadtteil Soho in Panik gerieten, als ein seltsamer Geruch die Straßen erfüllte.

Das Areal, so berichten die Freeman-Brüder in ihrem Buch, wurde evakuiert. Doch es handelte sich nicht um den befürchteten Gasanschlag einer Terrorgruppe. Vielmehr stießen die Feuerwehrleute auf nichts Gefährlicheres als ein Gericht, das in der Küche eines Thai-Restaurants vor sich hin brutzelte.

Zugleich fühlt man sich durch die ständig zunehmende Zahl von Kameras immer stärker überwacht und kontrolliert.

"Ich glaube an den Wert der Paranoia"

Außerdem, so schreiben die Briten in ihrem Buch, könnte es sein, dass die Betonung des individuellen wirtschaftlichen Erfolgs in den kapitalistischen Staaten des Westens dazu ermutigt, in anderen Menschen Konkurrenten und eine potentielle Bedrohungen zu sehen. "Wenn es ums Geschäft geht, glaube ich an den Wert der Paranoia", zitieren sie den früheren Intel-Chef Andrew S. Grove. "Je erfolgreicher man ist, desto mehr Leute wollen einen Teil deines Geschäfts abhaben, und noch einen Teil und einen weiteren Teil, bis nichts mehr übrig ist."

Diese Art aggressiven, offen feindseligen Kapitalismus scheint unsere Tendenzen zur Paranoia zu unterstützen, so erklären die Freeman-Brüder. Darüber hinaus sei das Vertrauen in die Politiker weitgehend verschwunden. "Wir erwarten von den Politikern, dass sie uns belügen."

Doch warum sind manche Menschen anfälliger für paranoide Gedanken als andere? "Die Erklärung", schreiben Freeman und Freeman, "liegt irgendwo in dem Mix aus unseren bisherigen Erfahrungen, sozialen und wirtschaftlichen Einflüssen, unserem Gemütszustand, unseren Erinnerungen, unserer Persönlichkeit und unseren Fähigkeiten, logisch zu denken". Und am wichtigsten sind unsere Gefühle - allen voran unsere Angst.

Betroffen sind vor allem Menschen, die zuvor tatsächlich schlechte Erfahrungen gemacht haben und wenig Vertrauen in sich selbst und den Rest der Welt besitzen. Und "bei jemandem, der sich selbst als schwach und gefährdet wahrnimmt und andere als grausam und gefährlich, braucht es nicht mehr viel Einbildungskraft, um auf den Gedanken zu kommen, andere wollten ihn schädigen." Die beiden Briten fordern angesichts der aktuellen Entwicklungen, dass mehr getan werden müsse gegen die Paranoia.

Andererseits ist die Welt voller Bedrohungen, wie Dennis Combs erklärt. Es sei also durchaus nützlich, wachsam zu sein. "Nicht jeder versucht, dich zu kriegen, aber einige vielleicht schon", erklärte der Forscher der Infoseite softpedia.com. Ein wenig Paranoia könnte demnach durchaus helfen, ein besseres und sichereres Leben zu führen.

Und außerdem: Bestimmt wollen die Freeman-Brüder auch nur, dass ich mein Geld für ihr teures Buch ausgebe.

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