Wenn Jürgen Geist von der Technischen Universität München einer Flussperlmuschel in den Fuß pikst, dient das der Rettung einer ganzen Art. "Wir entnehmen mit der Spritze etwas Gewebeflüssigkeit für einen DNA-Test, so wie ein Arzt eine Blutprobe nimmt", sagt er. Die Erbgutkontrolle sei nötig, um bei Auswilderungsprojekten nachgezüchteter Muscheln genetische Vielfalt sicherzustellen. "Das ist wichtig für die Anpassungsfähigkeit der Tiere. Und sie sind dann auch robuster, was Krankheiten betrifft", erklärt der Agrarbiologe.
Sand aus der Umgebung wird in die Flüsse gespült und erstickt den Nachwuchs
Die Flussperlmuschel ist ein Garant für ökologisch intakte Gewässer und weltweit vom Aussterben bedroht. "Viele Populationen sind genetisch verarmt oder stark überaltert. Oft sind die jüngsten Muscheln über 50 Jahre alt", berichtet Geist. Deshalb versuchen Forscher und Naturschützer seit vielen Jahren, mit Nachzuchten das Schlimmste zu verhindern. Zum Beispiel im Rahmen eines mit Bundesmitteln geförderten Verbundprojekts, an dem auch Geists Arbeitsgruppe beteiligt ist. Rund 1300 nachgezogene, bis zu handtellergroße Flussperlmuscheln verschiedenen Alters leben zurzeit in Kieskäfigen oder Lochplatten in vier eigens dafür ausgewählten Bächen in Sachsen. Voraussichtlich Ende Mai werden sie in die Freiheit entlassen.
"Das ist schon etwas Besonderes. Da stecken viele Jahre Arbeit drin", sagt Projektleiter Thomas Berendonk von der Technischen Universität Dresden. Neben der aufwendigen Muschelzucht habe sein Team auch viele Bäche genauer unter die Lupe genommen, Temperaturen, pH-Werte und Nährstoffgehalte gemessen. So konnten sie jene Abschnitte ausmachen, die den Muscheln eine besondere Wohlfühlatmosphäre bieten. Außerdem haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersucht, welche Kost den Muscheln besonders guttut. Unter anderem haben sie im Labor geprüft, in welchem Verhältnis Algen und Bakterien idealerweise als Nahrung vorhanden sein sollten. Und sie haben die Mageninhalte von Freilandmuscheln analysiert. "Süßgrasabrieb zum Beispiel scheint wichtig für die Entwicklung der Muscheln zu sein. Eine Wiese in der Umgebung ist deshalb besser als etwa ein Maisacker", so der Gewässerökologe.
Das gilt auch aus einem anderen Grund. Denn das Hauptproblem der natürlichen Muschelvermehrung sind Sand und andere Feinpartikel, die bei Regen von umliegenden Feldern in die Flüsse und Bäche gespült werden. Sie setzen sich ab, verstopfen das Kiesbett, in dem die Jungmuscheln üblicherweise heranwachsen, und unterbinden die Sauerstoffzufuhr. Die Tiere ersticken. Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, dass sich überhaupt Jungmuscheln entwickeln. Denn die Flussperlmuschel braucht für ihre Vermehrung einen Wirtsfisch, die Bachforelle oder, in anderen Ländern, den Atlantiklachs. Auch für ihn müssen die Bedingungen stimmen. Die Muschellarven setzen sich in den Kiemen der Fische fest und wachsen dort in etwa zehn Monaten zu staubkornkleinen Jungmuscheln heran, die dann auf den Flussgrund sinken. Dort sind sie jahrelang auf eine ausreichende Nährstoff- und Sauerstoffzufuhr angewiesen.
Mit Nachzuchten wollen Forscher und Naturschützer diese kritische Phase überbrücken. Dazu infizieren sie Bachforellen, die in großen Becken gehalten werden, künstlich mit Muschellarven aus den Flüssen. Wenn die Jungmuscheln abfallen, werden sie eingesammelt, in Eimern und Aquarien gepäppelt und später in Käfigen in die Naturgewässer gehängt, bis sie mehrere Zentimeter groß und reif sind für ein Leben in Freiheit.
Das ganze Prozedere dauert fünf Jahre, oft auch länger. "Die Auswilderung ist aber nur eine Notmaßnahme. Es muss sehr viel mehr passieren", betont Berendonk. Nicht nur Gewässer müssten renaturiert werden, sondern auch die Landschaft drum herum, von der die Sedimente eingetragen werden. "Eine schonendere Bodenbearbeitung auf den Äckern könnte helfen und auch, das Wasser nach Regenereignissen in der Fläche zurückzuhalten, um extreme Trockenereignisse abzupuffern", sagt Berendonk. Solche Maßnahmen will sein Team als Nächstes untersuchen.
Die Flussperlmuschel ist nicht die einzige gefährdete Flussmuschelart. In Deutschland etwa werden auch Bachmuscheln und Malermuscheln immer seltener. Ihre Bedürfnisse sind allerdings weit weniger gut erforscht. Dass die Flussperlmuschel bisher im Zentrum der Muschelretter steht, hat vor allem zwei Gründe. "Sie ist besonders bedroht und sie ist eine Flaggschiffart, also irgendwie sexy, was den Schutzgedanken betrifft", sagt Geist. Immerhin enthält im Schnitt jedes 3000ste Exemplar schmucke Perlen, die einst heiß begehrt waren und denen im 17. Jahrhundert sogar Heilkräfte gegen Epilepsie, Schlaganfälle und die Pest zugeschrieben wurden.
Heute wissen Biologen vor allem die ökologischen Dienstleistungen der Muscheln zu schätzen. "Sie filtern das Flusswasser, sorgen für klares Wasser und eine gute Wasserqualität", sagt Geist. Jede erwachsene Flussperlmuschel befreie zig Liter Wasser am Tag von Algen und Sediment. Alles, was sie nicht verwerten können, geben sie ins Substrat. So liefern sie Nährstoffe für Insektenlarven, die wiederum den Speiseplan von Fischen bereichern - auch jenen der Bachforelle. "So schließt sich der Kreis wieder", betont Geist. Zudem verankern sich die Muscheln am Flussgrund und bilden dort Wohlfühlorte für andere Arten, ähnlich wie Korallenriffe in den Meeren. Mit ihrem Fuß graben sie im Sediment und verbessern dadurch die Sauerstoffversorgung. Auch das tut anderen Arten gut.
Wie die Rettung der natürlichen Wasserfilter gelingen kann, ist im Naturschutzgebiet Lutter in der Heide zu sehen. Mehrere Bachläufe schlängeln sich dort durch sattgrüne Wiesen und Wälder. Nicht nur die Flussperlmuschel, sondern weitere etwa 200 bedrohte Tierarten sind hier zu Hause. Der Biologe Reinhard Altmüller war für die Fachbehörde Naturschutz des Landes Niedersachsen tätig, als 1989 die Renaturierung des Gebiets begann. Sie dauerte 15 Jahre und kostete knapp 17 Millionen Euro. Auch hier wurden zur Bestandssicherung Muschelnachzuchten ausgewildert. "Entscheidend für den Erfolg war aber der Flächenerwerb", berichtet Altmüller. Unter anderem wurden landwirtschaftliche Flächen der Natur überlassen, zerstörte Bachläufe renaturiert und Gräben gebaut, die Sediment von den Gewässern fernhalten. Um die Vermehrung der Flussperlmuscheln muss sich hier niemand mehr kümmern. "Wenn die schädlichen Einflüsse beseitigt sind, dann läuft das alles von allein", sagt der Biologe.