Die britischen Kolonialherren waren gerade abgezogen, da versuchten indische Wissenschaftler und Politiker schon, in die ferne Zukunft zu blicken. Und sie machten sich Sorgen. Sie befürchteten, dass der Staat sein Volk bald nicht mehr würde ernähren können. Der Demograf R. A. Gopalaswami rechnete die Bevölkerung hoch. Wie sollte Indien dereinst eine geschätzte halbe Milliarde Menschen ernähren können? Es musste etwas geschehen, so sah das die indische Führung damals.
Im Rückblick erwiesen sich die Sorgen der 50er-Jahre als überzogen, doch sie haben Indiens Bevölkerungspolitik geprägt: Delhi setzte auf Massen-Sterilisationen. Sie sind bis heute die häufigste Form der Verhütung im bald bevölkerungsreichsten Land der Welt. In "Sterilisations-Camps", die in kühleren Monaten vielerorts eingerichtet werden, arbeiten Ärzte wie am Fließband. 80 Operationen in weniger als fünf Stunden sind keine Seltenheit. Mangelnde Hygiene, fehlende Geräte, Schlamperei und in einzelnen Fällen sogar Trunkenheit der Männer mit dem Skalpell führten zu zahlreichen Todesfällen. 2014 starben in einem Dorf innerhalb weniger Stunden 15 Frauen. Oft wissen Frauen gar nicht genau, was sie erwartet, sie werden von ihren Männern gedrängt oder gezwungen.
Die Frauen tragen die Risiken der Operationen
Als Anreiz lockten Bundesstaaten mit Geschenken, Ärzte wurden belohnt, wenn sie möglichst viele Operationen durchführten. Die Risiken trugen allein die Frauen. 2016 entschied das oberste Gericht schließlich gegen diese Akkordarbeit: Die Justiz gab den Bundesstaaten drei Jahre, um die Praxis abzuschaffen. Zwar bleibt Sterilisation in Kliniken erlaubt, doch die Camps müssen weg, womit der Staat auf die vielen Skandale reagiert, die das Bild eines rückständigen und frauenfeindlichen Landes beförderten. Noch sind es vor allem Frauen, die sich sterilisieren lassen, etwa vier Millionen pro Jahr. Männer nehmen ihre Verantwortung kaum war.
Der Staat möchte den Anteil von männlichen Sterilisationen nun von unter fünf Prozent auf 30 Prozent erhöhen, doch bleibt vorerst unklar, wie er das erreichen kann in einer Gesellschaft, in der Sterilisation stark mit dem Stigma verlorener Männlichkeit in Verbindung gebracht wird. Experten beklagen außerdem, dass der Staat die Aufklärung zu lange vernachlässigt habe und Paare zu wenig Zugang zu anderen Verhütungsmethoden haben.
Die Geburtenraten sind durch die Massensterilisationen gefallen, zugleich ist die Lebenserwartung gestiegen. Indiens Bevölkerung von mehr als 1,3 Milliarden wächst um etwa 1,2 Prozent im Jahr, in den 70er-Jahren waren es fast zweieinhalb Prozent. Die Regierung steht unter Druck: Jedes Jahr drängen 13 Millionen Inder auf den Arbeitsmarkt, in keinem Land ist die Zahl der 10- bis 24-Jährigen höher. Im besten Fall ist die Jugend Quell neuer Ideen, sie bringt Schwung, davon erhoffen sich Ökonomen Schubkraft für die Wirtschaft. Aber es kann auch anders kommen, wenn die Massen keine Jobs finden, wenn ihr Frust den Frieden bedroht, wenn sich Konflikte um Land und Wasser verschärfen. Dann ächzen Staaten unter einer Last, die eigentlich ein Segen sein sollte.
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