Das Urteil gegen Kindermörder Jan O.:Genugtuung darf nicht das Ziel sein

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Nachdem Jan O. zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, will sein Anwalt in Revision gehen. Der Grund: Das Göttinger Landgericht hat den zweifachen Kindermörder in einem Fall für voll schuldfähig erklärt. Tatsächlich hilft das Urteil möglicherweise den Eltern der Opfer. Aber es ist trotzdem falsch.

Markus C. Schulte von Drach

Je furchtbarer und brutaler ein Verbrechen ist, umso lauter ist der Ruf nach einer möglichst hohen Strafe. Emotional ist dieser Wunsch nachvollziehbar. Letztlich geht es dabei um das Bedürfnis nach einer Art ausgleichender Gerechtigkeit.

Angesichts von grauenhaften Verbrechen an Kindern wie Nina und Tobias in Bodenfelde wird nach einer gerechten Strafe für den Mörder gesucht. Doch die kann es bei einem Täter mit schwerer Persönlichkeitsstörung nicht geben. (Foto: dpa)

Doch die Justiz darf sich nicht an Gefühlen orientieren, oder gar einem Bedürfnis nach Rache nachgeben. Vor Gericht muss geklärt werden, ob jemand ein Verbrechen begangen hat, und aus welchem Motiv heraus. Außerdem wird versucht, die Frage nach der Schuld zu beantworten: Ist ein Angeklagter möglicherweise nur vermindert schuldfähig oder sogar schuldunfähig? Mit anderen Worten: Konnte der Straftäter aufgrund einer schweren psychischen Störung gar nicht anders, als das Verbrechen zu begehen? An den Antworten orientieren sich Strafmaß und Umgang mit dem Täter.

Gilt jemand als schuldunfähig, so trifft ihn keine Schuld und man darf ihn überhaupt nicht bestrafen. Und wer vermindert schuldfähig ist, wird weniger hart bestraft. Schließlich kann ein Betroffener wie Jan O. selbst nichts dafür, dass er eine Persönlichkeitsstörung, abartige sexuelle Neigungen und eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit entwickelt hat. Hinter solchen Störungen stecken extrem ungünstige Umstände, die eine normale Sozialisation und die Entwicklung von Mitgefühl verhindern - etwa ein asoziales Umfeld. Auch genetische Faktoren können offenbar eine Rolle spielen.

Deshalb hatte Staatsanwalt Jens Müller während des Prozesses gegen Jan O. vor dem Landgericht Göttingen für die Morde an Nina und Tobias lediglich fünfzehn Jahre im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus und anschließende Sicherungsverwahrung gefordert. Selbst wenn der Mörder therapiefähig wäre - was die Gutachter für eher unwahrscheinlich halten -, würde er bei einem solchen Urteil auch nach 15 Jahren nicht freikommen.

Verteidiger Markus Fischer hatte dagegen erklärt, dass sein Mandant vielleicht doch zu therapieren wäre - und sei es in 20 oder 30 Jahren. Er hatte für Jan O. deshalb Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus gefordert, bis sein Mandant zu 100 Prozent keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darstellen würde - sich aber gegen die Sicherungsverwahrung ausgesprochen, die seiner Meinung nach sogar einem vielleicht inzwischen harmlosen Menschen den Weg zurück in die Gesellschaft verwehren könnte.

Begriffe wie Persönlichkeitsstörungen, Psychiatrie, Therapie und dann auch noch die Aussicht darauf, ein Mann wie Jan O. könnte wieder frei herumlaufen, irritieren die Bevölkerung und ganz besonders die Angehörigen von Opfern. Das klingt so, als würde der Täter mit Samthandschuhen angefasst und käme fast ungeschoren davon.

Doch so groß unser Widerwille auch sein mag - wir müssen uns eingestehen, dass es in unserer Gesellschaft immer wieder zu extrem gefährlichen psychischen Störungen kommt, und dass es dabei um kranke Menschen geht, die nicht anders handeln können, als sie tun. Die geschlossene Psychiatrie ist der richtige Ort für sie. Sie zur Strafe ins Gefängnis zu stecken und dann - ohne Therapie - wieder zu entlassen, wäre eine gefährliche Alternative. Sie zeitlich unbegrenzt und ohne Chance auf eine Behandlung wegzusperren, ist in einer demokratischen, humanistisch orientierten Gesellschaft wie der unseren gar keine Alternative. Das Gleiche gilt für die Todesstrafe.

Und wenn man davon ausgeht, dass Straftäter aufgrund einer Störung morden, dann stellt sich die Frage nicht mehr, warum so jemand leben darf, während seine Opfer tot sind. Und welchen Sinn hat in diesen Fällen noch eine Strafe, die sich am Ausmaß der Schuld orientiert?

Für einen gefährlichen Geistesgestörten wie Jan O. wäre ein angemessenes Urteil die Einweisung in die geschlossene Psychiatrie auf unbestimmte Zeit gewesen. Angesichts seiner schlechten Therapieprognose hätte er dort vermutlich den Rest seines Lebens verbracht.

Der Richter Ralf Günther hat jedoch - anders als von der Staatsanwaltschaft gefordert - die zwei Morde getrennt beurteilt. Die verminderte Schuldfähigkeit galt ihm zufolge nur im Fall der vierzehnjährigen Nina. Als Jan O. dagegen den dreizehnjährigen Tobias ermordete, war er Günther zufolge voll schuldfähig, denn das Motiv war hier nicht die Befriedigung seiner perversen Triebe. Vielmehr hatte sich der Verbrecher überlegt, dass er den Jungen, den er fälschlich für ein Mädchen gehalten hatte, nicht mehr laufen lassen konnte, ohne aufzufliegen. Für den Mord an Nina legte der Richter Jan O. 13 Jahre und zehn Monate Haft fest. Für den Mord an Tobias aber wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, zu Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

In den Medien wurde das Urteil als mutig bezeichnet. Doch tatsächlich kommt der Richter hier nur einem Bedürfnis der Angehörigen nach ausgleichender Gerechtigkeit entgegen, weil die Strafe "lebenslänglich" härter klingt, als jedes andere Urteil - abgesehen von der Todesstrafe. Das ist verständlich. Mutig ist es nicht.

Und es demonstriert, wie schwierig die Trennung zwischen schuldfähigen, vermindert schuldfähigen und schuldunfähigen Straftätern mit einer Persönlichkeitsstörung ist: Jan O. war nach dem ersten Mord entschlossen, ein zweites Kind zu töten, um seine abartigen Gelüste zu befriedigen. Wäre sein zweites Opfer tatsächlich ein Mädchen gewesen, so hätte er das - im Zustand gestörter Steuerungsfähigkeit - erneut getan. Unmittelbar vor der eigentlichen Tat aber erkannte Jan O., dass er es mit einem Jungen zu tun hatte. Und in diesem Augenblick kehrte er dem Gericht zufolge in den Zustand der Steuerungsfähigkeit zurück - und tötete Tobias aus rationalen Erwägungen heraus.

Doch es ging ihm darum, einen Zeugen auszuschalten, der ihn daran gehindert hätte, auch in Zukunft seinen perversen Gelüsten nachgehen zu können. Die Tat gehört also in den Rahmen der furchtbaren Verbrechen, die Jan O. aufgrund seiner massiv gestörten Persönlichkeit begangen hat.

Alle Handlungen des Täters am ersten Opfer selbst waren "sexuell besetzt", weshalb seine Steuerungsfähigkeit "erheblich gestört" war, so der Richter. Konsequent wäre darüber hinaus festzustellen, dass alle Handlungen des Mörders, die auf das Ziel ausgerichtet waren, seine abartigen Gelüste auszuleben, zwar vordergründig rational, hintergründig aber natürlich ebenfalls sexuell motiviert waren.

Allein, dass er sich entschieden hatte, gezielt nach einem Mädchen zu suchen, um es umzubringen, müsste als Zeichen gestörter Steuerungsfähigkeit interpretiert werden. Und letztlich hätte Jan O. auch Tobias nicht ermordet, wenn er keine Persönlichkeitsstörung hätte. Beide Morde sind demnach Folgen seiner Störung.

Deshalb stellt dieser Mann eine extrem große Gefahr für die Öffentlichkeit dar und muss aus der Gesellschaft entfernt werden. Vielleicht für immer.

Doch bei allem Mitgefühl und Verständnis für die Opfer und ihre Angehörigen: Das Urteil eines Gerichts kann und sollte in solchen Fällen nicht dazu dienen, ihnen Genugtuung zu verschaffen - so sehr man ihnen dieses Gefühl auch gönnt.

Und es übersteigt nicht nur die Möglichkeiten der Gerichte, in solchen Fällen Gerechtigkeit zu üben. Das kann niemand.

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