Sprache:"Handschrift des Teufels" von Charles Dickens entschlüsselt

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Auszug aus dem "Tavistock Letter". (Foto: Courtesy of The Morgan Library & Museum, MA)

Jahrzehntelang schien es unmöglich zu sein, das "wilde stenografische Geheimnis" des Schriftstellers zu lösen - bis Amateure zu tüfteln begannen.

Von Kristina Kobl

"Auch eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig", sagte Charles Dickens einmal. Für jedes Problem des Lebens, ob groß oder klein, lässt sich eine Lösung finden. Mehr als 150 Jahre nach seinem Tod aber scheint der Schlüssel gar nicht so klein zu sein, die Tür jedoch besonders schwer: Freiwillige aus aller Welt versuchen seit Jahren, seine Schrift zu entziffern, um endlich einen verschlüsselten Brief lesen zu können. Ein Team von englischen und italienischen Dickens-Forscherinnen und -Forschern aber rief einen Wettbewerb aus. Das Preisgeld: 300 Pfund, also etwa 350 Euro. Nun ist der Code zu 70 Prozent geknackt - ausgerechnet Programmierern, die mit Literatur wenig zu tun haben, ist der Coup gelungen.

Charles Dickens gilt als einer der bekanntesten viktorianischen Schriftsteller, er schrieb 15 Romane, sein wichtigstes Buch "Oliver Twist" wurde mehrfach verfilmt. Doch an seiner Handschrift verzweifelten Linguistinnen und Linguisten jahrzehntelang. Dickens verfasste sie in einem Stenografie-System, einer Kurzschrift aus dem Jahr 1700, die aus einfachen Zeichen gebildet wird. In seinem autobiografischen Roman "David Copperfield" nannte er die Kurzschrift ein "wildes stenografisches Geheimnis".

In England gab es insgesamt 200 solcher Kurzschrift-Systeme; im Vergleich zu den deutschen Systemen dominieren dort geometrische Zeichen. Dickens nutzte die Kurzschrift in seiner Zeit als Gerichtsreporter, noch vor seinem literarischen Durchbruch. Doch er veränderte das System mit der Zeit: Neben den üblichen stenografischen Zeichen und Symbolen verwendete er auch Punkte und Striche. Seine Art des Schreibens wurde zu einer Geheimschrift. Er nannte sie selbst "the devil's handwriting", also: die Handschrift des Teufels. Das machte die Frage für Dickens-Forschende umso spannender: Worüber zum Teufel schrieb Dickens da überhaupt?

Charles Dickens (1812 bis 1870) war einer der berühmtesten Schriftsteller des viktorianischen Englands. Vier seiner 15 Romane, darunter "David Copperfield" und "Bleak House", wurden später zu den bedeutendsten britischen Romanen gewählt. Sein letztes Buch nahm er mit ins Grab - seine Fans versuchen seitdem, ein Ende für die Geschichte zu finden. (Foto: dpa/dpa)

Die Forschenden interessierten sich besonders für den "Tavistock Letter", eines von vielen Manuskripten, die Dickens in seiner modifizierten Version der Stenografie verfasste. Einer der Teilnehmer des Wettbewerbs fand das Wort "advertisement", ein anderer das Wort "rejected", wieder ein anderer das Wort "unfair" - so wurde die Aussage des Briefes Stück für Stück gemeinsam entschlüsselt. Es geht darin um einen Streit zwischen Dickens und der Londoner Ausgabe der Times. Die Zeitung hatte abgelehnt, eine Anzeige für Dickens' neues Werk zu drucken. Der Autor beschwerte sich und forderte erneut, dass seine Anzeige gedruckt wird. Der Brief beginnt mit den Worten: "Ich fühle mich dazu gedrängt, mich persönlich an Sie zu wenden." Der Schriftsteller hatte sich in jener Zeit von den Herausgebern seines Journals Household Words getrennt und war dabei, eine neue Zeitschrift aufzubauen: All the year round. Die Werbeanzeige brauchte er, um seine Leserschaft zu halten.

"Dass der Dickens-Code geknackt wurde, ist einmalig", sagt Gudrun Müller, Sachverständige für Forensische Linguistik aus Neuss. "Da müssen Algorithmen erstellt werden, die dann auch noch zu dem Stil passen." Dickens' Schrift sei unglaublich schwierig zu entschlüsseln, weil er in einer ganz anderen Zeit schrieb, sagt die Linguistin. Selbst wenn man einen Teil verstanden habe, wisse man nie, in welchem Zusammenhang die Informationen zur nächsten Zeile stehen. Aus linguistischer Sicht müsse man lernen, sagt Müller, eine Satzstruktur als regelmäßig zu erkennen, Satzteile zu isolieren - und darauf zu achten, ob sprachliche Merkmale mehrmals auftreten. Denn nur dann kann man sicher sein, dass es kein Versehen ist.

Claire Wood von der University of Leicester und Hugo Bowles von der Universität Foggia in Italien leiteten das Dickens Project. Sie hatten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Workshops angeboten, um die Stenografie-Systeme zu erlernen. Manchen habe ihr Vorwissen über Dickens geholfen, um bestimmte Muster aus seinem Leben zu erkennen. Andere Teilnehmende mit Dickens-Kenntnissen haben die Symbole aber manchmal überinterpretiert und versucht, ihnen eine "Dickens'sche" Lesart zu geben, sagt Wood.

Doch dass "@" für "All the year round" stand, entdeckte der Gewinner des Wettbewerbs ganz ohne Kontext über Dickens' Leben: Shane Baggs, ein Hobby-Programmierer aus Kalifornien. Er entschlüsselte die meisten Symbole und gewann somit die 300 Pfund Preisgeld. An dem Wettbewerb nahm er nicht aus Begeisterung für Charles Dickens teil - er habe keinerlei Faible für Literatur - sondern schlicht aus Freude am Rätseln. Baggs sagt, er habe schon früh ein Interesse an Computersprache und Codes entwickelt und viel Zeit in einer Gruppe von Codern auf Reddit verbracht.

Der Entschlüsselung des Dickens Code hat die Zusammenarbeit zwischen Linguisten und Programmierern jedenfalls nicht geschadet. Ob geheime Schriften künftig hauptsächlich computerbasiert gelesen werden können? Claire Wood arbeitet bereits an einem neuronalen Netz, um mehr über die Rolle von Computern bei der Entschlüsselung zu lernen. Sie hält es für möglich, Computer für die Dekodierung von Stenografie-Systemen zu trainieren. Im Falle von Charles Dickens könnte das aber schwierig sein: "Es gibt nur noch wenige Stenografien, aus denen die Maschine lernen kann", sagt Wood. "Anstatt eines riesigen Datensatzes haben wir nur zehn bekannte Stenografie-Manuskripte." Das Dickens-Projekt läuft noch ein weiteres Jahr, um die restlichen 30 Prozent des Tavistock Letters zu entschlüsseln - dieses Mal jedoch ohne Preisgeld.

Charles Dickens hatte nach Einschätzung der Experten nicht vor, seine Geheimschrift tatsächlich geheim zu halten. Linguistin Gudrun Müller meint, die Kurzschrift sei im Grunde nur dazu da gewesen, um Zeit zu sparen. Es war schlicht einfacher für ihn - und damit umso schwieriger für die Programmierer und Linguistinnen, die sich doch so sehr dafür interessierten, was er zu sagen hatte. Ein kleiner Schlüssel für eine sehr, sehr schwere Tür.

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