Schmelzwasser schießt donnernd zu Tal. Der vergangene Winter in Norwegen war warm und trocken. Auch der Sommer hatte früh begonnen, und das Thermometer kletterte selbst in den bis zu 2000 Meter hohen Bergen von Jotunheinen bis auf 30 Grad Celsius. Aber nicht nur die ungewöhnliche Hitze des vergangenen Jahres setzt dem blaugrau schimmernden Eis zu, die globale Erwärmung nagt konstant am Gletscher und drängt dessen Zunge zurück.
Wo das Eis weicht, gibt es Dinge preis, die es sich in kälteren Zeiten einverleibt hatte. Die bis zu 50 Hektar großen Toteisflächen der norwegischen Gebirgszüge der Provinz Oppland legen Zeugnisse vergangener Kulturen frei, die sie oft Jahrtausende in ihrem Inneren konserviert haben: Lederschuhe aus der Bronzezeit, 3400 Jahre alt, 6000 Jahre alte Pfeile, ein 1300 Jahre alter Ski mit intakter Bindung.
Norwegen ist keine Ausnahme. Überall in den eisigen Gefilden Skandinaviens, Kanadas, in den Alpen und den Anden kommen in den schmelzenden Eismassen organische Materialien zum Vorschein, Kleidung, Leder, Holz, Tierschädel, Pflanzenreste, Tierdung oder in den Anden gar Eismumien. Ohne das schützende Eis wären sie längst vermodert und verrottet.
Hauptfundort ist Norwegen
Eine neue Disziplin in der Archäologie, die Gletscher- und Eisarchäologie, versucht, diese Kulturgüter systematisch zu untersuchen. Es gibt eigene Konferenzen, auf Facebook haben sich die Forscher unter "frozen pasts" zusammengeschlossen, ein neues Fachjournal wird veröffentlicht. "Die ganze Geschichte hat enorm an Bedeutung gewonnen", schreibt Martin Callanan von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technik in Trondheim in Science (Bd. 346, S. 157, 2014).
Norwegen ist für die Archäologen ein Hotspot. Allein in der Provinz Oppland, zu der auch die Region um Jotunheinen gehört, wurden bislang fast 2000 Artefakte entdeckt. Das ist mehr als die Hälfte aller Funde aus Eisflächen weltweit. In den Alpen sind bisher nur 900 Artefakte entdeckt worden. Jeder Fund birgt Informationen über Kultur, Tierwelt, Jagdgewohnheiten und Techniken.
Es sind Fenster in die Vergangenheit - und die Hinweise sind präzise, denn die Schätze aus dem Eis sind fast nicht gealtert. Davon profitierten die Forscher schon etwa beim Sensationsfund Ötzi, den Wanderer im September 1991 in den Ötztaler Alpen fanden. Der Jäger aus der Bronzezeit ist mittlerweile die am besten untersuchte Leiche der Welt. Für ihn haben Forscher wie Albert Zink, Leiter des "Instituts für Mumien und den Eismann" in Bozen, eigene Techniken und Untersuchungsmethoden entwickelt und verfeinert. Und so gelang es den Wissenschaftlern aus Details eine längst verschwundene Lebenswelt fassbar zu machen.