Psychologie:"Man muss lernen, adäquat mit dem Ärger umzugehen"

Lesezeit: 2 Min.

Klingeln und schimpfen oder den Ärger einfach weglächeln? (Foto: Johannes Simon)

Hupen, meckern, anrempeln - im Alltag geht es oft ungerecht zu. Psychologin Katja Bertsch erklärt, warum wir so oft still in uns hinein grummeln, statt uns zu wehren.

Von Hannah Wagner

"Hey, bist du dumm?", schreit ein Fahrradfahrer, während er haarscharf auf dem Gehweg an einer Fußgängerin vorbeifährt. Sie schaut ihn schockiert an, sage aber nichts. Eine Frau drängelt sich an der langen Schlange zur Kasse des Supermarktes vor. Sie stellt sich einfach mitten hinein. Eine andere Frau sagt: "Entschuldigen Sie mal, das geht so nicht", sonst sagt niemand etwas. Hupen, meckern, anrempeln - der Alltag in einer Großstadt.

Warum wehren wir uns so oft nicht dagegen, wenn uns jemand auf der Straße anschreit oder sich vordrängelt? Katja Bertsch, psychologische Psychotherapeutin und Professorin für klinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München beschäftigt sich unter anderem mit Emotionen und sozialen Interaktionen. Sie erklärt, warum wir so oft nicht für uns einstehen, wenn wir im Alltag Ungerechtigkeiten erfahren.

Woran liegt es, dass wir Alltagsungerechtigkeiten sooft über uns ergehen lassen?

Wir lernen im Laufe unseres Lebens, uns nicht immer aggressiv zu verhalten, da das auch gewisse Nachteile mit sich bringt. Es geht immer um eine individuelle Abwägung von Kosten und Nutzen, inklusive der potenziellen Gefahr, in die ich mich begebe, wenn ich für mich einstehen würde. Wie ich mich in so einer Situation verhalte, ist immer eine soziale Entscheidung.

Katja Bertsch ist psychologische Psychotherapeutin und Professorin für klinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. (Foto: SZ)

Warum fällt es manchen Menschen total leicht, für sich einzustehen, und manchen eher weniger?

Da gibt es verschiedene Faktoren, zum Beispiel die persönliche Sensibilität für Ungerechtigkeiten oder ob ich allgemein das Gefühl habe, ich werde immer übergangen. Auch, ob ich mich in die andere Person hineinversetzen und ein Verständnis für ihr Handeln aufbringen kann, hat Einfluss. Das hilft uns, unsere Impulse zu kontrollieren und darüber nachzudenken: Hat die Person das mit Absicht gemacht, ist sie gestresst, hat sie es eiliger als ich? Dazu kommt die Fähigkeit, unmittelbare Gefühle und Verhaltensimpulse regulieren zu können. Und viele von uns haben von früh auf gelernt, nicht selbst zurückzuschlagen, sondern die Beurteilung und Bestrafung an andere abzugeben, also uns zum Beispiel an Erzieher und Erzieherinnen zu wenden - und später auch an staatliche Institutionen.

Gibt es bestimmte Momente oder Phasen im Leben, in denen es uns leichter fällt, uns gegen Ungerechtigkeiten zu wehren?

Man muss zum Beispiel die Nähe und Distanz beachten, die Gefährdungssituation, die man für sich persönlich sieht. Wenn ich im Auto sitze und hupe, ist die Gefahr weiter entfernt, ich bin in relativer Sicherheit. Wenn ich direkt vor jemandem stehe und ihn anschnauze, ist die unmittelbare Reaktion der anderen Person viel direkter.

Was ist eigentlich für die eigene Psyche besser? Immer für sich einzustehen oder kleine Ungerechtigkeiten über sich ergehen zu lassen?

Es ist überhaupt nicht wissenschaftlich belegt, dass es uns langfristig Entspannung bringt, den Ärger unmittelbar auszuagieren. Das bringt vielleicht kurzfristig Erleichterung, aber kann auch zu anderen negativen Gefühlen wie Scham oder Schuld führen. Man muss lernen, adäquat mit dem Ärger umzugehen und sich selbst zu fragen: "Kann ich den Ärger nutzen, um sinnvoll zu handeln?" Man muss aber auch aufpassen, den Ärger nicht zu verdrängen und somit möglicherweise in Situationen zu verschleppen, wo er völlig unangemessen ist.

Und wie mache ich das?

Die beste Lösung ist, das Gefühl wahrzunehmen, zu verstehen und zu bewerten, ob die Stärke des Gefühls angemessen ist. Das heißt nicht, jede Ungerechtigkeit über sich ergehen zu lassen, sondern mit möglichst klarem Kopf, die eigenen Handlungsoptionen und deren Konsequenzen abzuwägen. Wenn ich mich in den Ärger reinsteigere, und meine Wahrnehmung darauf fokussiere, nehme ich viel mehr Ungerechtigkeiten und Bedrohungen wahr und fühle mich dann noch ungerechter behandelt.

Die besten Kontersprüche fallen mir selbst sowieso eine Stunde später unter der Dusche ein. Und dann?

Frieden schließen. Man kann den Ärger nicht loswerden, in dem man 50-mal drüber nachdenkt und über Rache fantasiert.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: