Zwischen den Zahlen:Das Narrativ vom Ökosystem

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Auch die Sprache muss mit der Zeit gehen. Aber seitdem auch abgewählte US-Präsidenten Narrative unter die Menschen bringen und aus Autos Ökosysteme werden, wird die Sache unübersichtlich.

Von Thomas Fromm

Mit der Sprache ist es so eine Sache. Sie verändert sich ständig, ob man das will oder nicht. Auf einmal sind sie da, Begriffe wie Corona, Inzidenzwert und jene mysteriöse AHA-Formel, von der heute viele immer noch nicht wissen, was sie eigentlich bedeutet. AHA?

Aber auch die Sprache muss mit der Zeit gehen, wenn sie überleben will, und rein semantisch gesehen ist sie ja immer auch für interessante Überraschungen gut. Vor allem dann, wenn es um Begriffe geht, über die man eigentlich längst Bescheid zu wissen glaubte. Das "Narrativ" zum Beispiel ist so ein Ding. Früher war es als literarisches Kunstwerk einzig den sinnstiftenden Erzählungen vorbehalten, und das war aus heutiger Sicht auch völlig ausreichend. Denn dann tauchten diese Narrative auf einmal überall auf, die Welt war irgendwann voll davon, und zuletzt hieß es sogar, der besiegte US-Präsident Donald Trump würde sein "Narrativ der Wahlmanipulation" immer weiter unters Volk bringen. Das gute alte Narrativ ist seit seiner Erfindung als sinnstiftende Erzählung also ziemlich tief gefallen. Und jetzt weiß keiner, wie man es wieder sinnstiftend einsetzen kann.

Auch das im Grunde ja harmlose Ökosystem ist nicht mehr das, was es einmal war. Es gab Zeiten, da dachte man bei dieser wunderbar harmonischen Sprach-Kombination aus Öko und System ja nicht zufällig an das Becken des Amazonas oder an den Bayerischen Wald rund um Bodenmais am Großen Arber. An Gegenden also, von denen man annehmen konnte, dass hier Mensch, Tier, Baum und Pflanze seit Jahrhunderten in freundlicher Symbiose zusammenleben. Wenn dann einer in Brasilien daherkam und ein paar Tausend Quadratmeter Regenwald wegholzte, war klar, dass das für das Ökosystem keine gute Nachricht sein konnte.

Nun taucht das Ökosystem seit einiger Zeit aber auch da auf, wo gar keine Bäume stehen. Irgendwann hat sich also irgendjemand die Idee vom Amazonasbecken einfach geschnappt, seitdem ist von IT-Ökosystemen die Rede und von Fabriken, die digital so vernetzt sind, dass man sie jetzt auch Ökosysteme nennt, obwohl nicht einmal ein Fluss durch sie hindurchfließt. Selbst digital vernetzte Autos gelten inzwischen als Ökosysteme, obwohl da meistens niemand wohnt und auch nur selten etwas wächst. Aber angeblich, so geht zumindest das Narrativ, soll die Symbiose von Blech und Software sehr harmonisch sein.

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