VW-Skandal:Schein und Sein

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Illustration: Stefan Dimitrov; Fotos: dpa (Foto: N/A)

Ein paar philosophische Fragen ermöglichen eine ganz neue Betrachtung des Volkswagen-Skandals. Schließlich ist eine Software, die zwischen Prüfstand und Straße unterscheiden kann, mehr als kalte Technik.

Von Thomas Fromm, München

Dass Männer wie die alten VW-Haudegen Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn bei all dem Auto-Testen und Spaltmaß-Ausmessen Zeit hatten, sich auch noch mit Philosophie zu beschäftigen, kann man sich vielleicht nicht vorstellen, aber ganz ausgeschlossen ist es auch nicht. Hätten sie - zum Beispiel - zwischendurch beim großen griechischen Sophisten Protagoras vorbeigeschaut, hätten sie Aufschlussreiches lesen können. Zum Beispiel jene Lehraussage über den Menschen an sich, der erst recht für Automenschen gilt, und wahrscheinlich sogar auch für Autos gültig wäre, wenn die alten Griechen Autos gekannt hätten. "Der Mensch", so Protagoras, sei "das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind".

Piëch und Winterkorn waren ja einmal große Protagonisten und damit auch ein bisschen Maß aller Dinge. Dass sie jetzt nicht mehr sind, zumindest nicht mehr groß im Geschäft und damit im Rampenlicht, hat sicher viele Gründe, und nicht alle davon sind philosophisch zu klären. Man darf jedoch annehmen, dass beide es auch deshalb nicht mehr sind, weil sie Grenzen überschritten haben. Grenzen, die man nicht überschreiten sollte.

Winterkorn ging bis an die Grenzen und darüber hinaus. Das galt auch für die Gehälter

Der eine, Piëch, weil der den anderen im Frühjahr mit einem im Grunde doch recht sophistischen Satz ("Ich bin auf Distanz zu Winterkorn") auf Distanz halten wollte. Der andere, Winterkorn, weil er lange Chef dieses Volkswagen-Konzerns war und in dieser Zeit Grenzen überschritten wurden. Nicht irgendwelche. Abgas-Grenzen!

Womit man bei einem weiteren großen Thema der Philosophie wäre, nämlich der Frage, wo Grenzen liegen und warum der Mensch - Maß aller Dinge oder nicht - sie in besonderen Fällen besser nicht überschreiten sollte.

Da sich Martin Winterkorn nicht als Philosoph, sondern als Automanager verdingte, lagen ihm PS, Drehmomente und Spaltmaße naturgemäß näher als die Frage nach den Grenzen menschlichen Handelns. Dass er sich wohl oder übel mit ganz speziellen Grenzen, nämlich jenen von Abgaswerten, beschäftigen musste, lag wiederum an seinem Job und nicht an der Liebe zur Philosophie. Bei der Festlegung von Abgas-Grenzwerten wollte der Ingenieur dann auch lieber einen Schritt nach dem anderen machen. Nur nicht rasen. Nicht hier!

"Den dritten Schritt vor dem ersten zu machen, wäre fatal", sagte er bei der Pariser Automesse im Herbst 2014. Da war er noch VW-Chef. Dass er dann selber ein gutes Jahr später mit einem Riesenschritt aus dem Amt ging, lag auch daran, dass VW eine Software in seine Dieselmotoren gesteckt hatte, mit der Abgasmessungen manipuliert wurden und Grenzwerte auf diese Weise leichter eingehalten werden konnten. Eine ganz spezielle Grenzüberschreitung, für die aber, so hieß es später, nur einige wenige Ingenieure verantwortlich gewesen sein sollen. Um in der VW-Scholastik zu bleiben: Man überholte die Grenzwerte rechts und machte so den zehnten Schritt vor dem zweiten.

Welch ein Manöver!

Damals in Paris sagte Winterkorn übrigens noch andere interessante Dinge zum Verhältnis von Autos, Geld und Grenzen, die man sich merken musste. Zum Beispiel, dass es ziemlich teuer ist, wenn man die Grenzwerte einhalten will. "Jedes Gramm CO2, das wir in Europa in der Flotte einsparen, kostet unseren Konzern fast 100 Millionen Euro", sagte er. Man konnte sich das leicht ausrechnen: Allein um die CO2-Grenzwerte der EU für das Jahr 2020 zu erreichen, müssen ein paar Milliarden Euro investiert werden. Es gibt ziemlich teure Grenzen.

Politiker legen Grenzwerte fest, die die Industrie dann einhalten muss - solche Verfahren müssen für ältere Automanager, die in einer Welt ohne Abgas-Grenzwerte groß geworden sind, etwas sehr Seltsames sein. Seltsamer noch als alle Sophisten der Antike zusammen.

Nun wäre es zu kurz gegriffen, Ingenieuren zu unterstellen, sie wären reine Techniker und hätten keine anderen Interessen neben Motoren und Schrauben. Diese Software, die im Englischen defeat device und auf Deutsch "Abschalteinrichtung" heißt, ist - trotz ihrer technischen Bezeichnungen - von Anfang an immer auch eine sehr philosophische Sache gewesen. Konnte sie nicht unterscheiden zwischen Prüfstand und Straße, zwischen Schein und Sein, und war sie nicht von Anfang an eine Art Grenzgängerin des Motors? Eine Software, die etwas vorgaukeln kann, was nicht ist ("das nichtseiende"), ist mehr als kalte Technik.

Nun war es ja Winterkorn selbst, der schon vor Jahren in einem Interview über Grenzen gesprochen hat. Ende 2012, da wurde er zum Manager des Jahres gekürt, sagte er: "Volkswagen ist Perfektion. Dazu stehe ich. Auch wenn wir dazu manchmal an die Grenzen gehen müssen."

Bis an die Grenzen und über die Grenzen hinaus. Das galt auch für die Gehälter, die in so einem Konzern lange gezahlt wurden. Fast 16 Millionen Euro bekam Winterkorn noch 2014. Rein wirtschaftlich betrachtet: der bestbezahlte Industriemanager des Landes. Das Maß aller Dinge. Andererseits: Mit Philosophie allein ließ sich noch nie viel Geld verdienen.

© SZ vom 02.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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