Ihr Ziel war es, einen Betriebsrat zu gründen. Sechs Monate kämpfte die Aldi-Kassiererin Sznezana M., 35, mit ihren beiden Kollegen Aleksandar C., 30, und Nenad D., 40. Die drei scheiterten. Der Betriebsrat im Rhein-Main-Gebiet ist jetzt mit Filialleitern besetzt, die drei Kassierer haben die Firma verlassen. Ihr Kampf gewährt einen tiefen Einblick in das System Aldi.
Aldi ist der größte Discounter in Deutschland. Die Familien der Gründer Theo und Karl Albrecht gehören zu den reichsten Deutschen. Aber ihr Unternehmen ist eine Blackbox. Umsatz und Gewinn sind nicht bekannt, immer wieder gibt es Gerüchte über einen rüden Umgang mit Mitarbeitern, eine systematische Überwachung der Angestellten und eine strikte Personalpolitik. Genaues wusste man lange nicht.
Im Rhein-Main-Gebiet hat der Discounter etwa 55 Filialen. Seit knapp zehn Jahren arbeiten Sznezana M., Aleksandar C. und Nenad D. bei Aldi in Frankfurt. Sie verdienen knapp 15 Euro pro Stunde. Im Sommer 2010 kommt ein neuer Filialleiter, er soll den Laden voranbringen, die Inventur-Ergebnisse sind schlecht. Die Filiale hat viel Laufkundschaft, es kommt öfter vor, dass Obdachlose eine Flasche Wodka mitgehen lassen. Der Filialleiter verdächtigt die drei Kassierer, zu klauen. In Einzelgesprächen teilt er ihnen im Januar 2011 mit, dass sie deswegen versetzt werden sollen. "Wir mussten um unsere Ehre kämpfen", sagt Aleksandar C. Die drei schreiben einen Brief an den Aldi-Prokuristen S. In einer Stellungnahme antwortet der, dass sie nichts gestohlen hätten.
"Wir wollten, dass er auch die Mitarbeiter darüber informiert", sagt Aleksandar C. Die drei suchen sich juristischen Beistand, Anfang März stoßen sie auf den Anwalt Jörg Weber. Der hat lange für die IG Metall gearbeitet; und er hat keine Scheu, sich mit Großen anzulegen. Gleich beim ersten Treffen mit den drei Mitarbeitern hat er die Idee mit dem Betriebsrat. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht vor, dass eine Betriebsratswahl entweder von einer Gewerkschaft initiiert wird - oder aber von drei Mitarbeitern, die zu einer Versammlung einladen, bei der ein Wahlvorstand gewählt wird.
Wenige Tage nach der gescheiterten Wahl bekommt C. eine Abmahnung
Am 22. März hängen die drei Kassierer ein DIN-A4-Blatt zur Wahl eines Wahlvorstandes auf. Zur Betriebsversammlung am 2. April kommen fast alle der etwa 40 Wahlberechtigten. Auch Regionalverkaufsleiterin W. ist da. Bei Aldi sind vier bis fünf Märkte zu einer Region zusammengefasst. W. ist Chefin einer solchen Region, ihr unterstehen vier bis fünf Filialleiter und etwa 40 Kassierer. W. hat ihren Namen gut lesbar auf die Teilnehmerliste geschrieben. Ein unüblicher Vorgang.
Aldi Süd schreibt dazu in einer Stellungnahme: "Bei der Betriebsversammlung war die zuständige Regionalverkaufsleiterin auf Wunsch einiger Mitarbeiter anwesend. Dies verstößt nicht gegen das Betriebsverfassungsgesetz." Mehrere Filialleiter äußern auf der Versammlung, dass man keinen Betriebsrat brauche und bitten um Abstimmung. 31 Mitarbeiter stimmen gegen einen Betriebsrat, drei enthalten sich. Die Sitzung wird abgebrochen. Die drei Kassierer wollen Klage einreichen.
Am 7. April, wenige Tage nach der gescheiterten Wahl, bekommt Aleksandar C. eine Abmahnung. "Am Donnerstag, den 10. 03. 2011, waren Sie zum Arbeitsbeginn um 06:00 Uhr eingeteilt und eingeplant", schreibt Regionalverkaufsleiterin W. "Erst 10 Minuten nach dem eigentlichen Arbeitsbeginn, also gegen 06:10 Uhr, meldeten Sie sich telefonisch in der Filiale und teilten mit, dass Sie Durchfall hätten und nicht zur Arbeit erscheinen könnten. Mit Ihrem Verhalten haben Sie erheblich gegen Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen."
Was W. verschweigt: Vor sechs Uhr morgens sind die Büros nicht besetzt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Frühschicht erst zehn Minuten nach dem Aufsperren ans Telefon geht. Am selben Tag wird auch Nenad D. abgemahnt. "Am Mittwoch, den 09. 03. 2011, wurde im Rahmen eines Testeinkaufes von Ihnen übersehen, dass die Testeinkäuferin eine Jacke über die Lenkstange des Einkaufswagens gelegt hatte." Es hätte ein Warenverlust von 7,99 Euro entstehen können.
Bei vielen Discountern kommen Testkäufer zum Einsatz. Zum einen geht es darum, die Mitarbeiter zu sensibilisieren, an Minderjährige keinen Alkohol oder Zigaretten zu verkaufen. Zum anderen ist das Ziel von Testkäufen, "gerichtsfestes Material" zu sammeln, so nennen das die Aldi-Manager intern. Aus ihrer Perspektive ist es ideal, wenn jeder Mitarbeiter zwei Abmahnungen in der Personalakte hat. Wenn man ihn loswerden möchte, ist es nach ein paar Testkäufen aus. Wann die Tester zuschlagen, kann die Regionalverkaufsleiterin bestimmen; sie kennt die Schichtpläne.
Fast 20 Mal versuchen Testkäufer, Sznezana M. zu übertölpeln. Am 15. April beordert der Discounter Sznezana M. in eine andere Aldi-Region. M. muss mit der S-Bahn fahren, mehr als 40 Stationen im Bus sitzen und noch 15 Minuten zu Fuß gehen. Anwalt Weber legt Widerspruch ein. Am 4. Mai spricht das Arbeitsgericht Darmstadt eine einstweilige Verfügung aus, weil offensichtlich eine Betriebsratswahl verhindert werden sollte. Sznezana M. darf in ihrer alten Filiale bleiben. Die Situation ist angespannt. Freie Tage kann M. nur noch mit Begründung beantragen. Wenn sie zum Elternabend muss, hat sie dem Filialleiter eine Kopie der Einladung zu zeigen. Am 1. Juli bittet Regionalverkaufsleiterin W. Sznezana M. zum Gespräch in ihr Büro. W. habe sie als psychisch krank und schlechte Mutter bezeichnet, berichtet M. Jeder in der Filiale würde sie "hassen". Nach dem Gespräch bricht M. zusammen. Im Krankenhaus wird ein "Nervenzusammenbruch nach Mobbing" diagnostiziert. Aldi bestreitet diese Version.
Wie seit Wochen geplant, fahren Nenad. D., Aleksandar C. und Sznezana M. um den 20. Juli herum in Urlaub. Bei Aldi passiert derweil Sonderbares: Am 25. Juli tagt eine Wahlversammlung, auf der drei Filialleiter in den Wahlvorstand gewählt werden. Regionalverkaufsleiterin W. nimmt laut Protokoll auf Wunsch der Mitarbeiter an der Versammlung teil. Bei den Wahlen am 12. September konkurrieren zwei Listen. Eine Truppe Filialleiter - hat Aldi sie ausgesucht? Sie tingeln vor der Wahl durch alle vier Filialen. Die drei Kassierer jedenfalls dürfen vor der Wahl ihren Arbeitsplatz nicht verlassen, um für ihre Liste zu werben.
Am Wahltag muss jeder einzeln im Lager abstimmen. "Frau W. saß in ihrem Büro", sagt Nenad D. "Von dort kann sie die Kamera, die im Lager installiert ist, per Joystick bedienen." Aldi bestreitet das: "Eine Überwachung der an der Versammlung teilnehmenden Mitarbeiter fand ausdrücklich nicht statt." Vier Tage später verkündet der Wahlvorstand das Ergebnis: Aldi hat jetzt einen Betriebsrat, besetzt mit eigenen Filialleitern.
Anwalt Weber legt Widerspruch ein. Die Anfechtung der Betriebsratswahl soll im Januar 2012 stattfinden. Dazu kommt es nicht. Die drei Kassierer halten den Druck nicht mehr aus. Weber gelingt es, Abfindungen auszuhandeln. Ein freier Betriebsrat wäre schön gewesen, sagen die drei. Ihre Mission ist es nun, zu zeigen, wie Aldi wirklich ist.