Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, sagt der Volksmund, und er hat recht. Schadenfreude begegnet dem Deutschen derzeit im internationalen Austausch häufig. Der brave Begriff "Diesel" wird zum Unwort. Die kriminellen Manipulateure der Abgastests bei VW - und hoffentlich wenigstens nur dort! - haben ganze Arbeit geleistet.
Die Folgen des dreisten, fortgesetzten Betrugs in einem besonders sensiblen Bereich, in dem es um Schadstoffe und Gesundheit geht, wiegen schwer für den 600 000-Menschen-Konzern. Ein atemberaubender Wertverfall an der Börse, Gewinnwarnung, der Sturz des Vorstandschefs - und das alles ist erst der Anfang. Als nächstes rollt eine Klagewelle auf Wolfsburg zu, und die Konsequenzen auch für andere Autobauer, die Industrie insgesamt und sogar für Deutschlands Rolle in der Welt sind nicht abzusehen.
Übertrieben? Leider nicht.
Die Fallhöhe ist groß. Die deutsche Volkswirtschaft pflügt sich ja bisher in Bestform durch die Euro-Land-Krise. Sie meldet einen Exportrekord nach dem anderen, macht kaum neue Schulden, bietet so vielen Menschen Arbeit wie nie zuvor und gewährleistet im Schnitt einen beträchtlichen Wohlstand.
Derart gestählt, kann es sich die Merkel-Republik leisten, Europa die "richtige" Wirtschaftspolitik vorzuschreiben. Aber der politische Einfluss und der moralische Impetus gegenüber stark verschuldeten EU-Staaten werden vom Image gestützt, dass die Deutschen eben nicht wie andere für Schlendrian oder gar Korruption empfänglich sind, sondern pflichtbewusst und gesetzestreu, dass sie "gut" wirtschaften und regieren. Das ist nicht unbedingt sympathisch, nötigt aber Respekt ab, der sich in Euro und Cent auszahlt.
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Was aber, wenn der Respekt weg ist?
VW ist ein Traditionsunternehmen der ganz besonderen Art, bei dem der Staat maßgeblich mitbestimmt und wo die Gewerkschaften so viel Einfluss haben wie kaum sonst irgendwo; wo gibt es das sonst noch so? Der VW-Eklat ist deshalb ein Fanal, er diskreditiert den Anspruch des Landes auf moralische Führerschaft in Europa.
Ohnehin ist es mit den Ikonen nicht mehr so weit her. Deutsche Bank, Deutsche Lufthansa, deutsche Werften, Deutsche Post (Telefon und Brief), der (deutsche) Volkswagen-Konzern - das sind verblassende Mythen. Das muss nicht schrecken, Unternehmen kommen und gehen und erfinden sich neu, Wirtschaft ist dem Wandel unterworfen. Missmanagement und Betrug aber sind hausgemacht, und sie sind besonders gefährlich: Sie fressen sich durch die Organisation, und sie wirken nach außen. Sie zerstören Vertrauen.
Schon die Lufthansa kämpft nicht nur mit einem von außen aufgezwungenen Strukturwandel, sondern auch mit dem vom Copiloten willentlich herbeigeführten Absturz des Germanwings-Airbus. Die Deutsche Bank hat sich in der Finanzkrise als verantwortungslose Zockerbank entpuppt, die nun versucht, sich mit vielen Milliarden Euro Ruhe zu erkaufen, was den einst exzellenten Ruf nicht wiederherstellen wird. Der ADAC hat, wenig engelhaft, Umfragen manipuliert; bei Siemens gab es schwarze Kassen, um sich Aufträge zu erschleichen, anderswo sind verbotene Kartelle geschmiedet worden: Die Abstrahlwirkung dieser Verfehlungen ist gewaltig in einer Wirtschaft, die sich so stark dem Export verschrieben hat.
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Deutsche Waren sind in der Welt begehrt - nicht etwa, weil sie billig wären, sondern weil sie besonders gut sind. Weil Produkte und Macher als zuverlässig gelten. Made in Germany, dieses grandiose informelle Gütezeichen, ist einst von den Briten eingeführt worden, um deutsche Marken zu denunzieren - eine Fehleinschätzung, wie es sie in der Wirtschaftsgeschichte vielleicht kein zweites Mal gab. Was die Konkurrenz damals nicht geschafft hat, gelingt nun den Deutschen ganz von selbst.
Alles trostlos also? Das muss nicht sein. Nicht, wenn man aus der Krise wirklich lernt, wenn daraus besseres Wirtschaften entsteht. Bei VW haben sie damit jetzt angefangen - aber wie verzagt! Anders als seinerzeit bei Siemens sucht man bei VW nicht die Lösung von außen und installiert neue, unbelastete Manager, sondern man setzt in Matthias Müller auf einen Mann, der seit 40 Jahren im Konzern ist. Dem selbst der eigene Aufsichtsrat nicht rückhaltlos traut, sonst hätte er ihn kein Papier unterschreiben lassen, dass er bitte von den schlimmen Dingen nichts gewusst habe. So gewinnt man kein Vertrauen zurück, gewiss nicht.
VW muss nachlegen, vielleicht hilft das Vorbild anderer Unternehmen und Branchen. Da darf nichts vertuscht und nichts beschönigt werden. Auch die Politik muss mitmachen. Viel zu lange wurde die Autoindustrie, an der so viele Arbeitsplätze und so viel kollektives Selbstbewusstsein hängen, von den Bundesregierungen unter Artenschutz gestellt. Sogar die EU-Partner fügten sich zähneknirschend: Wettbewerb, Klimaschutz schön und gut, aber beim Auto, das wussten sie in Brüssel, verstehen die Deutschen keinen Spaß.
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Wahrscheinlich ist das sogar ein wesentlicher Teil des Problems. Denn eine Industrie, die so gehätschelt wird, verliert das Maß. Sie biegt sich die Wirklichkeit zurecht, wie es ihr passt - so wie nun beim VW-Diesel, der partout nicht so sauber sein wollte, wie er sollte. Deshalb muss die Politik dringend Abstand von der Autobranche gewinnen - nicht obwohl, sondern gerade weil sie so wichtig ist für die Volkswirtschaft.
Wenn es Politiker gibt, die immer noch glauben, sie müssten jetzt Deutschland durch Kollaboration mit den Autokonzernen retten, haben sie nichts verstanden. Komplizenschaft widerspricht auch den Regeln einer Marktwirtschaft, die von den Politikern in Sonntagsreden beschworen wird. Erfolgreich ist in einem freien System typischerweise nicht, wer am besten geschützt wird. Sondern wer sich im freien Wettbewerb behaupten muss und entsprechend zu Höchstleistungen getrieben wird. VW braucht jetzt nicht Schutz, sondern Druck.