Versicherungen:Neun Fotos reichen

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Blechschäden wie diese könnten künftig von einer künstlichen Intelligenz berechnet werden. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Mit Methoden der künstlichen Intelligenz wollen Versicherer die Schadenbearbeitung vereinfachen und die Risiken besser einschätzen - auch in Deutschland.

Von Nina Nöthling, Jonas Tauber und Herbert Fromme, Köln

Gott sei Dank gibt es keine Verletzten bei dem Auffahrunfall. Aber der Blechschaden ist beträchtlich. Der Unfall wird dem Versicherer gemeldet. Dann kommt ein Gutachter und beurteilt, wie hoch der Schaden ist. Inzwischen sind Tage oder Wochen vergangen. Das geht künftig ganz anders, berichtet Adrien Cohen, Chef und Mitgründer des Londoner Start-ups Tractable. "Der Betroffene wird gebeten, eine App zu laden", erläutert Cohen. "Dann macht er mit der App nach genauen Anweisungen Fotos von dem Schaden."

Das sind vielleicht fünf, sechs Fotos. Die App bittet noch um ein Bild von vorn, auf dem die ganze eingedellte Stoßstange zu sehen ist, und eins von schräg hinten. Neun Fotos sind es schließlich - und auf dieser Grundlage berechnet das System des Versicherers mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit den Reparaturaufwand, auch wenn kein Gutachter den Wagen gesehen hat. Der Versicherer gibt die Reparatur frei, das Ganze hat wenige Minuten gedauert. Bislang arbeiten französische und britische Gesellschaften mit dem Tractable-System, noch 2020 will die Firma auch in Deutschland aktiv werden.

Die deutschen Versicherer freunden sich langsam mit der künstlichen Intelligenz (KI) an, wie Tractable sie nutzt. Sehr viel passiert schon in der Schadenbearbeitung. "Seit 2015 können künstliche Intelligenzen Schadenbilder besser auswerten als Menschen", erklärt Cohen bei der SZ-Fachkonferenz zu künstlicher Intelligenz und Versicherung. Die persönliche Inspektion des Schadens braucht die meiste Zeit bei der Schadenbearbeitung. Die KI macht alles schneller.

Um Algorithmen zu trainieren, sind enorme Datenmengen nötig. Versicherer haben sie

Um Algorithmen zu trainieren, sind enorme Datenmengen nötig. Versicherer haben traditionell viele Daten. Trotzdemreichen sie manchmal nicht für das Training aus, sagt Sébastian Labourdette von der globalen Technologieplattform Plug & Play. Gerade kleinere Gesellschaften haben nicht genügend Schadendaten, um einer KI die verschiedensten Szenarien beizubringen. Labourdette glaubt, dass hier Start-ups ins Spiel kommen. Das französische Unternehmen Monk hat seine KI mithilfe einer Carsharing-Firma trainiert. Deren Kunden fotografieren bei Beendigung der Miete das Auto. "Das passiert tausendfach am Tag, viel öfter als ein Versicherungsschaden." Monk lässt die Bilder durch seine KI laufen. So erkennt das System die verschiedensten Autotypen und kleine Beschädigungen und kann danach große Schäden besser einordnen.

Noch machen die Systeme Fehler, und Betroffene wehren sich

Eigentlich gehören die Versicherer zu den Erfindern von Big Data - der sinnvollen Nutzung großer Datenmengen. Auf der Datenanalyse, die sie seit vielen Jahrzehnten betreiben, beruhen alle Tarife.

Aber jetzt ändern sich die technischen Grundlagen. Die um ein Vielfaches erhöhte Rechenleistung der Computer und die wachsende Menge an Daten erlauben ganz andere Auswertungen - auch solche, die nicht nur auf der Basis früherer Erfahrungen Tarife und Bedingungen festlegen, sondern auch Vorhersagen künftiger Entwicklungen machen.

Wer als Versicherer diese technischen Möglichkeiten nutzt, hat einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil. Er kann Risiken übernehmen, die andere Gesellschaften ablehnen müssen, weil sie keine Erfahrungsdaten haben. Und er kann seine Kosten und den Schadenaufwand drastisch senken - beispielsweise weil er weniger Gutachter durchs Land schicken muss und weil er Versicherungsbetrug eher erkennt.

Inzwischen werten nach Stürmen KI-Systeme Luftbilder von Satelliten und Drohnen aus, kein Sachverständiger muss aufs Dach klettern. Allerdings: Noch machen die Systeme Fehler, und betroffene Hausbesitzer wehren sich erfolgreich gegen die vom KI-Computer ausgerechneten Schadensummen. Aber das sind Anfangsschwierigkeiten, sind sich die Experten einig. Auch aus diesen Fehlern lerne die KI.

In Deutschland werden KI-Systeme vor allem in der Autoversicherung und der privaten Krankenversicherung eingesetzt. Große Gesellschaften wie HUK-Coburg und Allianz haben in der Kfz-Versicherung Telematik-Tarife im Angebot. Wer besonders umsichtig fährt, bekommt Rabatt. Dafür sammeln ein Stecker im Auto, ein Sensor oder eine App die Fahrdaten. Eine KI errechnet dann eine Bewertung - den Score - auf Basis des Bremsverhaltens, der Beschleunigung, der Geschwindigkeit und anderer Werte. Ist der Score besonders gut, zahlen Halter bis zu 30 Prozent weniger.

Die HUK-Coburg hat 267 000 Telematik-Verträge im Bestand. Die Analysen der KI haben ergeben, dass einige Merkmale nicht relevant sind. "Die Tageszeit oder ob der Fahrer auf der Autobahn oder Landstraße unterwegs ist, spielen keine signifikante Rolle beim Unfallrisiko", sagt Thomas Körzdörfer von der HUK. Anders sieht das aus, wenn ein Fahrer nachts plötzlich abrupt bremst. Deshalb wird das harte Bremsen nachts anders bewertet als tagsüber. Es gibt einen klaren Rückschluss aus allen Daten: "Fahrer mit einem schlechten Score haben eine hohe Schadenquote, und die mit einem guten Score eine niedrige."

Ein Grund für die Beschäftigung der Versicherer mit der KI ist auch ihre Sorge, dass Internetgiganten wie Google oder Amazon verstärkt in den Versicherungsmarkt einsteigen. Die Angst vor dem US-Unternehmen ist aber unbegründet, beruhigt Cohen von Tractable. Google habe viel Erfahrung mit KI, aber keine Schadendaten. "Die haben die Versicherer." Auch Frank Walthes, Chef der Versicherungskammer Bayern, sieht in den Daten den eigentlichen Rohstoff der Versicherer. "Sie sind Geld und Gold wert", sagt er. Aber den Zugang zu riesigen Datenmengen habe nur der, der sie mit KI-Methoden auch auswerten könne.

Die aktuelle Technologie ist mit der Intelligenz eines Vierjährigen vergleichbar, sagen Experten

Der Versicherer als Big Brother, der jeden Schritt und jeden gefahrenen Kilometer seines Kunden überwacht - das gibt vielen Kunden Anlass zur Sorge. Mark Klein, Digitalvorstand der Ergo, tritt deshalb für mehr Aufklärung ein. "Ich glaube, dass wir die Technologie entmystifizieren müssen." Die Menschen befürchteten, dass Roboter ihnen ihre Jobs abnehmen und sie überflüssig machen. Das sei aber unbegründet, glaubt Klein. Die aktuelle Technologie sei eher mit der Intelligenz eines Vierjährigen vergleichbar als mit der eines Erwachsenen. "Eine KI ist gebaut für eine bestimmte Fragestellung, wir sind noch sehr weit entfernt von einer superintelligenten KI." Die heutige KI übernehme immer wiederkehrende Aufgaben, die Menschen könnten dann Sinnvolleres tun.

© SZ vom 14.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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