USA:Die Rettung der Welt war illegal

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Die Wall Street in New York: Eine Pleite des Versicherers AIG im Jahr 2009 hätte das US-Finanzzentrum ins Wanken gebracht. (Foto: Spencer Platt/afp)

Ein US-Richter hält die Verstaatlichung des Versicherungskonzerns AIG im Jahr 2008 für gesetzeswidrig. Das Urteil könnte Folgen für künftige staatliche Hilfsaktionen haben.

Von Claus Hulverscheidt, New York

Man kann nicht sagen, dass Henry Paulson gerade einen Lauf hatte, als er am 16. September 2008 vor einer folgenschweren Entscheidung stand. Vor Stunden erst hatte der US-Finanzminister die Bank Lehman Brothers pleite gehen lassen und damit eine Schockwelle um den Globus geschickt. Nun stellte sich die Frage, ob er auch den Daumen über AIG, den weltgrößten Versicherer, senken sollte.

Paulson sowie Ben Bernanke und Timothy Geithner, die beiden damals führenden Köpfe der US-Notenbank Fed, trauten sich nicht und entschieden sich aus Furcht vor einem Finanzmarktkollaps für das genaue Gegenteil: Mit einem Hilfspaket, das sich am Ende auf 185 Milliarden Dollar belaufen sollte, bewahrten sie den Konzern vor der Pleite. Gleichzeitig feuerte die Fed den Firmenchef, übernahm knapp 80 Prozent der Aktien und verstaatlichte AIG so.

Scharen von Kapitalismuskritikern und Ökonomen, darunter etwa Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, haben die Rettungsaktion seither mit dem Argument verdammt, die Regierung sei mit dem Konzern und seinen Geldgebern viel zu freundlich umgegangen. Seit Montagabend nun haben es die Amerikaner schriftlich, dass das Vorgehen von 2008 sogar "illegal" war. So zumindest sieht es Thomas Wheeler, Richter am Bundesverwaltungsgericht der USA - aber nicht etwa, weil die Behörden AIG zu nett behandelt hätten. Im Gegenteil: Die Maßnahmen seien "zu drakonisch" gewesen, so Wheeler. Er gab damit Maurice Greenberg recht, einem Großaktionär und Ex-Chef des Konzerns.

Zwar wies der Richter Greenbergs Forderung nach Schadenersatz an die Altaktionäre im Umfang von 40 Milliarden Dollar ab, moralisch stellte er sich jedoch auf ihre Seite. Demnach habe die Fed AIG zwar Kredite geben können, sie hätte den Konzern aber nicht verstaatlichen dürfen. Auch sei der Zinssatz von zwölf Prozent, den die Notenbank für das Darlehen verlangte, unangemessen hoch gewesen. Regierung und Fed seien mit AIG sehr viel harscher umgesprungen als mit allen anderen Problemfällen. Das komme einer ungerechtfertigten Benachteiligung der AIG-Aktionäre gleich.

Aus Regierungssicht hingegen war der Zinssatz für einen Hochrisiko-Kredit angemessen. Tatsächlich schrieb AIG bereits 2012 wieder schwarze Zahlen und konnte die Hilfen zurückzahlen. Unter dem Strich blieb für den Steuerzahler ein Gewinn von fast 23 Milliarden Dollar. Gemessen an den Verlusten, die etwa die Bundesregierung nach der zögerlichen Verstaatlichung des Finanzkonzerns HRE bis heute einfährt, eine in der Tat bemerkenswerte Bilanz.

Einen Laden wie AIG raushauen, das kann es nun kaum mehr geben. Ob das ein Vorteil ist?

Wheelers Entscheidung könnte künftige staatliche Rettungsaktionen erschweren, denn sie eröffnet Beschwerden, einstweiligen Verfügungen und anderen juristischen Schritten Tür und Tor. "Die Wahrscheinlichkeit, dass es jemals wieder zu einem Vorgehen wie bei AIG kommen wird, ist nun sehr gering", sagte Karen Shaw Petrou vom Forschungsunternehmen Federal Financial Analytics der Nachrichtenagentur Bloomberg. Der Richter habe "eine Bodenschwelle in die Straße eingebaut, wenn nicht gar ein Stoppschild gesetzt".

Experten erwarten allerdings, dass beide Seiten Wheelers Spruch anfechten werden, theoretisch ist ein Gang bis vor den Obersten Gerichtshof der USA möglich. Obwohl die Regierung nicht zahlen muss, wird sie ein Urteil, das staatliche Rettungsaktionen in ein zweifelhaftes Licht rückt, kaum hinnehmen - auch um künftige Eingriffe nicht unnötig zu erschweren. Umgekehrt sind auch die Ex-Anteilseigner unzufrieden: "Sie haben ja nicht geklagt, um als moralische Sieger vom Feld zu gehen", sagte Dennis Kelleher von der Beratungsfirma Better Markets der New York Times. "Sie haben geklagt, weil sie Geld wollen."

Die Fed bezeichnete ihr damaliges Vorgehen am Montag in einer Reaktion auf das Urteil als "legal, angemessen und effektiv". Man habe "für Millionen Versicherungskunden, kleine Betriebe und amerikanische Arbeitnehmer Verluste verhindert, die sie bei einem Kollaps von AIG erlitten hätten", hieß es. Auch das Justizministerium erklärte, die Regierung teile Wheelers Rechtsauffassung mitnichten und sei nach wie vor davon überzeugt, 2008 "angemessen und innerhalb der gesetzlichen Grenzen gehandelt" zu haben.

So fragwürdig der Richterspruch auch erscheinen mag, so sehr haben die damals politisch Verantwortlichen dazu beigetragen. In einer Anhörung im letzten Jahr gaben Paulson, Bernanke und Geithner allesamt keine glückliche Figur ab. Zugleich wurden Aussagen von Regierungsberatern und E-Mails aus jener Zeit öffentlich, in denen es etwa hieß, die Regierung bewege sich im Fall AIG "auf dünnem Eis - und das weiß sie auch". Allerdings wirft auch Wheelers Urteilsbegründung Fragen auf: Darin räumt der Richter nämlich unumwunden ein, dass den Aktionären im Fall, dass die Regierung nicht eingeschritten wäre und AIG hätte bankrottgehen lassen, "wohl ein Verlust von 100 Prozent entstanden wäre".

Ohnehin könnte sich Greenbergs Erfolg vor Gericht noch als Pyrrhussieg erweisen. Denn sollte die Regierung tatsächlich zur Einschätzung gelangen, dass die Rettung einer in die Krise geratenen Bank künftig so nicht mehr möglich ist, wird sie umso mehr darauf erpicht sein, Schieflagen von vorneherein zu verhindern. Statt der erwünschten Lockerung der Regulierungsvorschriften könnte der Branche damit eine erneute Gesetzesverschärfung drohen.

© SZ vom 17.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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