Die Löhne driften in Deutschland zunehmend auseinander. Die Reallöhne, also die Bruttolöhne nach Abzug der Inflation, sind seit Mitte der Neunzigerjahre bei den 20 Prozent Beschäftigten mit den höchsten Gehältern gestiegen. Gleichzeitig musste das Fünftel der Arbeitnehmer mit dem geringsten Verdienst Einbußen bei den Reallöhnen hinnehmen. Dies geht aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Münchner Ifo-Institut hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Danach sank das Lohnniveau in der Gruppe des unteren Fünftels um zwei Prozent, während es im oberen Fünftel inflationsbereinigt um 2,5 Prozent zulegte.
"Durchaus beträchtlicher Anstieg"
Die Wissenschaftler sprechen in ihrer Untersuchung von einem "durchaus beträchtlichen Anstieg" der Lohnungleichheit. Diese sei in Deutschland nach wie vor geringer als im Durchschnitt der 34 OECD-Staaten. Jedoch sei sie in den vergangenen beiden Jahrzehnten schneller gestiegen als etwa in den USA oder Großbritannien, also den Ländern, "die typischerweise als sehr ungleich gelten".
Die zunehmende Lohnspreizung wird in der Studie vor allem auf die weit verbreitete Flucht aus den Tarifverträgen zurückgeführt: 1996 hielten sich noch 60 Prozent der Betriebe bei der Bezahlung ihrer Mitarbeiter an einen Branchen- oder Firmentarifvertrag. 2010 lag der Anteil der tarifgebundenen Betriebe nur noch bei 35 Prozent. Bis 2013 hat er sich weiter auf 32 Prozent verringert. Damit ist auch der Anteil der Beschäftigten mit einem Tarifvertrag von 82 auf 60 Prozent gesunken, die aber werden besser bezahlt als Arbeitnehmer, die ohne Tarif auskommen müssen.
Nach den Berechnungen der drei Studienautoren kam ein tarifgebundener Beschäftigter 1999 im Durchschnitt auf acht Prozent mehr Lohn als ein Arbeitnehmer, der nicht von einem Tarifvertrag profitieren kann. Im Jahr 2010 betrug dieses Plus bei den Mitarbeitern mit Tarifvertrag bereits durchschnittlich 19 Prozent.
Das Trio stützt sich bei seiner Studie auf einen umfangreichen Datensatz von zwei Prozent aller Personen, die von 1975 bis 2010 in Deutschland einen sozialversicherungspflichtigen Job hatten oder Arbeitslosengeld oder Hartz IV bezogen (ohne Selbständige und Beamte). Im Jahr 2010, bis dahin reicht diese Erhebung, waren das fast 700 000 Menschen. Eine Untersuchung der Tarif-Forscher der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hatte Anfang März ebenfalls ergeben, dass Tarifbeschäftigte mehr verdienen. Der durchschnittliche Bruttolohn belief sich demnach 2010 bei Frauen auf 17,70 Euro pro Stunde, bei denen ohne Tarifvertrag waren es nur 13,90 Euro. Bei Männern betrug der Durchschnittsverdienst mit Tarif 23,60 Euro, ohne lediglich 18,90 Euro.
Ausbau des Niedriglohnsektors
Im Gegensatz zur Tarifbindung bewerten die Verfasser der Bertelsmann-Studie den Einfluss des internationalen Handels auf die Lohnungleichheit als eher gering. Vielfach wird angenommen, dass durch die Globalisierung der Druck auf die Löhne von gering Qualifizierten in den Industrienationen zugenommen hat, weil sich in den Schwellenländern viele Produkte billiger herstellen lassen. Die Forscher weisen hingegen darauf hin, dass Firmen, "die sowohl importieren als auch exportieren, die höchsten Löhne zahlen". So erhielten bereits Mitte der Neunzigerjahre Mitarbeiter in Unternehmen, die Güter ins Ausland ausführten, im Durchschnitt elf Prozent mehr Bruttolohn als bei Firmen mit einem rein inländischen Markt. Bis 2010 wuchs dieser Unterschied auf knapp 15 Prozent.
Die Wissenschaftler erkennen an, dass der Anstieg der Lohnungleichheit mit dem Ausbau des Niedriglohnsektors und den Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt zusammenhängt: "Die Ungleichheit unter den Beschäftigten steigt, wenn vor allem solche Arbeitnehmer in Beschäftigung kommen, die ein geringes Einkommen erzielen." Schränke man deren Arbeitsmöglichkeiten ein, etwa "durch eine zu rigide Lohnsetzung", werde die Lohnungleichheit sicherlich zurückgehen. Nur könnte dann aber die Ungleichheit bei den Gesamteinkommen steigen, wenn diese Personen nichts mehr verdienten.